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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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Eigentum zu schützen oder wirtschaftlichen Wohlstand zu fördern. Verhielte es sich so, würde den Vermögenden der größte Anteil an der politischen Macht zustehen. Die Demokraten wiederum hätten unrecht, weil politische Gemeinschaft nicht allein darin bestehe, den Weg der Mehrheit zu gehen. Aristoteles verwirft die Vorstellung, der Zweck von Politik bestehe darin, die Vorlieben der Mehrheit zu befriedigen.
    Beide Seiten übersehen in seinen Augen das höchste Ziel der Politik, das in der Sorge um die Tugend der Bürger bestehe. Der Staat existiert »nicht um einer Bundesgenossenschaft wegen … noch wegen des Tauschhandels und des gegenseitigen Nutzens«. 6 Für Aristoteles geht es in der Politik um etwas Höheres: Man soll lernen, wie man ein gutes Leben führt. Ziel der Politik ist nichts Geringeres, als die Menschen in die Lage zu versetzen, ihre spezifisch menschlichen Fähigkeiten und Tugenden zu entwickeln – über das Gemeinwohl zu verhandeln, praktisches Urteilsvermögen zu erwerben, an der Selbstverwaltung teilzunehmen und sich um das Schicksal der Gemeinschaft insgesamt zu kümmern.
    Aristoteles erkennt an, dass andere, geringere Formen des Zusammenschlusses wie etwa Verteidigungsbündnisse und Handelsabkommen nützlich seien. Er besteht jedoch darauf, dass Vereinigungen dieser Art noch keine wahren politischen Gemeinschaften seien. Warum nicht? Weil ihre Ziele beschränkt sind. Organisationen wie NATO , NAFTA und WTO befassen sich nur mit Sicherheit oder wirtschaftlichem Austausch; sie konstituieren keine gemeinsame Lebensweise, die den Charakter ihrer Teilnehmer formt. Und das lässt sich auch von einem Staat sagen, der sich nur um Sicherheit und Handel sorgt und gegenüber der moralischen und bürgerlichen Erziehung gleichgültig ist. »Wenn nämlich jemand die Orte in eines zusammenrückte, (…) so ergäbe das noch nicht einen Staat«, schreibt Aristoteles. 7 »Der Staat ist [keine] örtliche und zur Verhinderung gegenseitigen Unrechts und um des Austauschs der Erzeugnisse willen bestehende Gemeinschaft.« Diese Bedingungen mögen für einen Staat notwendig sein, sie sind aber nicht hinreichend. »Ziel des Staates ist demnach das gute Leben, und all das Gesagte ist um des Zieles willen da.« 8
    Wenn die politische Gemeinschaft dazu da ist, das gute Leben zu fördern, was ergibt sich daraus dann für die Vergabe von Ämtern und Auszeichnungen? Nun, was für Flöten gilt, gilt auch für die Politik: Aristoteles schließt vom Zweck eines Gutes auf die angemessene Art seiner Verteilung. »Welche also am meisten für eine derartige Gemeinschaft beitragen«, sind diejenigen, die in bürgerlichen Tugenden glänzen und die es am besten verstehen, über das Gemeinwohl zu beratschlagen. Es sind jene, die sich in Hinblick auf die bürgerlichen Tugenden am meisten auszeichnen – nicht die reichsten, die zahlreichsten oder die hübschesten –, die am meisten Anrecht auf Einfluss und Anerkennung haben. 9
    Da das Ziel der Politik das gute Leben ist, sollten laut Aristoteles die höchsten Ämter und Auszeichnungen an Menschen wie Perikles gehen, deren bürgerliche Tugend am größten und die in der Bestimmung des Gemeinwohls am besten sind. Besitzende sollten mitreden dürfen, Mehrheiten eine gewisse Rolle spielen. Der größte Einfluss solle freilich jenen zustehen, deren Charaktereigenschaften und Urteilsvermögen es erlauben, dass sie entscheiden, wann und wie man in den Krieg gegen Sparta zieht.
    Der Grund, weshalb Menschen wie Perikles (oder Abraham Lincoln) die höchsten Ämter und Ehren erhalten sollten, liegt nicht einfach darin, dass sie eine kluge Politik machen, die alle besserstellt. Die politische Gemeinschaft besteht zumindest auch teilweise deswegen, weil sie bürgerliche Tugenden auszeichnet und belohnt. Gesteht man denjenigen öffentliche Anerkennung zu, die exzellente staatsbürgerliche Tugenden zeigen, dient das der erzieherischen Rolle des guten Staates. Auch hier ist wieder zu erkennen, wie das teleologische Denken und die Frage der Anerkennung mit Gerechtigkeit einhergehen.

Moralischer Individualismus
    Der grundsätzliche Einwand gegen offizielle Entschuldigungen ist nicht leicht zurückzuweisen. Er beruht auf der Vorstellung, wir seien nur für das verantwortlich, was wir selbst tun, nicht aber für die Handlungen anderer Menschen oder für Ereignisse, die wir nicht steuern können. Wir sind so gesehen nicht verantwortlich für die Sünden unserer Eltern oder Großeltern oder eben

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