Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
unserer Landsleute.
Der grundsätzliche Einwand gegen offizielle Entschuldigungen ist von Gewicht, weil er sich auf eine starke und attraktive Vorstellung bezieht. Wir könnten sie als Idee des »moralischen Individualismus« bezeichnen. Die Lehre des moralischen Individualismus geht nicht davon aus, dass Menschen egoistisch sind, sondern sie postuliert, dass wir nur Verpflichtungen unterworfen sind, die wir freiwillig eingehen. Was immer ich anderen schulde, schulde ich ihnen aufgrund einer gewissen Übereinkunft – einer Entscheidung, einer Zusage oder einer getroffenen Abmachung, die ich selbst, ob nun stillschweigend oder explizit, getätigt habe.
Die Vorstellung, meine Verantwortung sei auf das beschränkt, was ich mir selbst auferlege, hat befreiende Wirkung. Sie geht davon aus, dass wir als moralisch Handelnde freie und unabhängige Individuen sind. Keine moralischen Fesseln hindern uns daran, unsere Ziele selbst zu wählen. Nicht Brauchtum, Tradition oder ererbter Status, sondern die freie Entscheidung jedes Einzelnen ist die Quelle der moralischen Verpflichtungen, die uns binden.
Es liegt auf der Hand, dass diese Sicht der Freiheit wenig Raum lässt für kollektive Verantwortung oder für eine Pflicht, die moralische Bürde historischen, von unseren Vorfahren begangenen Unrechts zu tragen. Hätte ich meinem Großvater versprochen, seine Schulden zu begleichen oder mich für seine Sünden zu entschuldigen, wäre das etwas anderes. Meine Pflicht, für Erstattung zu sorgen, wäre eine auf Übereinkunft beruhende Verpflichtung – sie ergäbe sich aber nicht aus einer kollektiven, die Generationen übergreifenden Identität. Ohne ein solches Versprechen erkennt der moralische Individualist keinerlei Pflicht an, für die Sünden der Vorfahren zu büßen. Schließlich waren das ihre und nicht seine Sünden.
Falls die Freiheitsvorstellung des moralischen Individualismus zutrifft, haben die Kritiker offizieller Entschuldigungen nicht ganz unrecht; für die Verfehlungen unserer Vorfahren tragen wir keine moralische Last. Doch es geht um weit mehr als um Entschuldigungen und kollektive Verantwortung. Die individualistische Sicht der Freiheit liegt vielen Theorien der Gerechtigkeit zugrunde, die uns von der zeitgenössischen Politik her wohlvertraut sind. Wenn diese Vorstellung von Freiheit allerdings falsch ist – und davon bin ich überzeugt –, dann müssen wir einige der grundlegenden Merkmale unseres öffentlichen Lebens überdenken.
Wie wir gesehen haben, spielen die Vorstellungen von Übereinkunft und freier Entscheidung eine große Rolle – nicht nur in der zeitgenössischen Politik, sondern auch in modernen Theorien der Gerechtigkeit. Werfen wir einen Blick zurück und sehen uns an, wie unterschiedliche Begriffe von Wahl und Übereinkunft dazu beigetragen haben, unsere heutigen Annahmen zu formen.
Eine frühe Version des wählenden Individuums stammt von John Locke. Er meinte, eine legitime Herrschaft müsse auf Übereinkunft beruhen. Warum? Weil wir freie und unabhängige Wesen seien – keiner väterlichen Autorität oder dem Gottesgnadentum eines Königs unterworfen. Da wir »von Natur alle frei, gleich und unabhängig sind, [kann] niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden«. 25
Ein Jahrhundert später bot Immanuel Kant eine stärkere Version des wählenden Individuums an. Im Gegensatz zu utilitaristischen und empiristischen Philosophen behauptete Kant, wir seien mehr als ein Bündel von Vorlieben und Begierden. Frei sein heiße selbstbestimmt sein, und das bedeute, dass ich von einem Gesetz regiert werde, das ich mir selbst gegeben habe.
Die Autonomie Kants ist anspruchsvoller als die Vorstellung einer Übereinkunft. Wenn ich das sittliche Gesetz will, so entscheide ich nicht einfach nach meinen zufälligen Begierden oder Treuepflichten. Vielmehr sehe ich von meinen speziellen Interessen und Bindungen ab und wähle es als Teilhaber der reinen praktischen Vernunft.
Im 20. Jahrhundert übernahm John Rawls Kants Entwurf des autonomen Selbst bzw. des selbstbestimmten Individuums und bezog sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit darauf. Wie Kant stellte Rawls fest, dass die von uns getroffenen Entscheidungen oft moralisch willkürliche Zufälle widerspiegeln. Entscheidet sich beispielsweise jemand dafür, in einem ausbeuterischen Betrieb zu arbeiten, kann das dringender wirtschaftlicher Not entspringen und keiner in
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