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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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einfach in dem, was die Gründer oder das Führungsgremium dazu erklären?
    Aristoteles glaubt, es sei möglich, vernünftig über die Zielsetzung sozialer Institutionen nachzudenken. Ihr Wesenskern sei nicht ein für alle Mal festgelegt, aber auch nicht einfach Ansichtssache. (Wenn die Zielsetzung des Harvard College einfach nur durch die Absichten seiner Gründer festgelegt wäre, bestünde sein Hauptzweck noch heute darin, Gemeindepfarrer auszubilden.)
    Wie aber lässt sich angesichts der offenkundigen Uneinigkeit über die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Praxis vernünftig darüber nachdenken? Und wie kommen die Vorstellungen über Auszeichnung und Tugend ins Spiel? In seiner Erörterung der Politik bietet Aristoteles seine am besten begründete Antwort auf diese Fragen.

Was ist der Zweck von Politik?
    Wenn wir heutzutage Fragen der Verteilungsgerechtigkeit erörtern, befassen wir uns vorwiegend mit der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen. Für Aristoteles betraf Verteilungsgerechtigkeit jedoch nicht hauptsächlich Geld, sondern vor allem Ämter und Auszeichnungen. Wer sollte das Recht haben, zu herrschen? Wie sollte politische Autorität vergeben werden?
    Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf der Hand zu liegen – natürlich auf der Basis von Gleichheit: Eine Person, eine Stimme. Jedes andere Vorgehen wäre eine Diskriminierung. Doch Aristoteles erinnert uns daran, dass alle Theorien der Verteilungsgerechtigkeit diskriminieren. Die Frage lautet: Welche Unterscheidungen sind gerecht? Die Antwort hängt von der Zielsetzung der fraglichen Aktivität ab.
    Ehe wir also angeben können, wie politische Rechte und Autoritäten vergeben werden sollten, müssen wir uns nach der Zielsetzung, dem Telos von Politik erkundigen. Wir müssen fragen: »Wozu ist eine politische Vereinigung da?«
    Diese Frage mag unbeantwortbar erscheinen. Unterschiedliche politische Gemeinschaften kümmern sich um unterschiedliche Dinge. Es ist eine Sache, über den Zweck einer Flöte oder einer Universität zu debattieren – ungeachtet eines gewissen Spielraums für Uneinigkeiten sind ihre Zwecke mehr oder weniger präzise zu umreißen: Der Zweck einer Flöte hat etwas mit Musik zu tun, der Zweck einer Universität mit Ausbildung. Doch können wir auch den Zweck oder das Ziel einer politischen Tätigkeit als solcher wirklich bestimmen?
    Heutzutage gehen wir gemeinhin nicht mehr davon aus, dass Politik ein spezielles, materielles Ziel habe. Vielmehr erscheint sie offen für die unterschiedlichen Ziele der Bürger. Halten wir die Wahlen nicht deswegen ab, damit die Menschen jederzeit wählen können, welche Zwecke und Ziele sie kollektiv verfolgt sehen wollen? Würde man einer politischen Gemeinschaft im Vorhinein einen bestimmten Zweck oder ein Ziel zuschreiben, sähe das aus, als komme man damit dem Recht der Bürger zuvor, selbst zu entscheiden. Daraus ergäbe sich auch die Gefahr, Werte durchzusetzen, die nicht von allen geteilt werden. Unser Widerstreben, Politik mit einem festgelegten Telos oder Ziel zu versehen, spiegelt eine Sorge um die Freiheit des Einzelnen. Denn wir betrachten Politik als ein Verfahren, das Menschen in die Lage versetzt, ihre Ziele selbst zu wählen.
    Aristoteles sieht das anders. Für ihn liegt der Zweck der Politik nicht darin, ein Gerüst von Rechten aufzubauen, das gegenüber Zielen neutral ist. Sie soll gute Bürger hervorbringen und deren guten Charakter kultivieren.
So ist es auch offenbar, dass ein Staat, der in Wahrheit so genannt wird und nicht bloß der Rede wegen so heißt, um die Tugend Sorge trägt. Es bedeutete sonst nämlich die Gemeinschaft nur eine Bundesgenossenschaft. (…) Und das Gesetz bedeutete nur eine Übereinkunft (…) und einen Bürgen gegenseitigen Rechts, doch ist es nicht in der Lage, die Bürger gut und gerecht zu machen. 5
    Aristoteles kritisiert in der Folge sowohl Oligarchen als auch Demokraten dafür, dass sie die politische Autorität für sich reklamieren. Beide hätten nur zum Teil recht. Die Oligarchen erheben den Anspruch, sie, die Reichen, sollten herrschen. Die Demokraten erheben den Anspruch, die Geburt als freier Mensch solle einziges Kriterium für das Bürgerrecht und die Teilhabe an der politischen Autorität sein. Doch beide Gruppen würden ihre Ansprüche übertreiben, weil beide den Zweck einer politischen Gemeinschaft falsch deuteten.
    Die Oligarchen hätten unrecht, weil es in einer politischen Gemeinschaft nicht allein darum gehe,

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