Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
irgendeinem vernünftigen Sinn freien Entscheidung. Wenn wir also wollen, dass die Gesellschaft ein freiwilliger Zusammenschluss ist, dann können wir sie nicht auf eine simple Übereinkunft gründen. Stattdessen sollten wir fragen, welchen Grundsätzen von Gerechtigkeit wir zustimmen würden, wenn wir unsere Einzelinteressen und Vorteile beiseitelassen und hinter einem Schleier des Nichtwissens entscheiden würden.
Kants Idee eines autonomen Willens und Rawls’ Vorstellung einer hypothetischen Übereinkunft hinter einem Schleier des Nichtwissens haben eines gemeinsam: Beide denken sich den moralisch Handelnden als unabhängig von seinen besonderen Zielen und Bindungen. Wenn wir das moralische Gesetz wollen (Kant) oder die Grundsätze der Gerechtigkeit wählen (Rawls), tun wir das ohne Bezug auf die Rollen und Identitäten, die unsere eigene Stellung in der Welt bestimmen und uns zu den speziellen Menschen machen, die wir sind.
Wenn wir beim Nachdenken über Gerechtigkeit von unseren jeweils eigenen Identitäten absehen müssen, ist nicht leicht zu begründen, warum die heutigen Deutschen für den Holocaust entschädigen oder Amerikaner der gegenwärtigen Generation das Unrecht der Sklaverei und der Rassentrennung wiedergutmachen sollten. Warum? Nun, wenn ich von meiner Identität als Deutscher oder Amerikaner absehe und mich als freies und unabhängiges Selbst vorstelle, gibt es keinen Grund für die Annahme, meine Verpflichtung zum Ausgleich dieser historischen Ungerechtigkeiten sei größer als die eines beliebigen anderen.
Stellt man sich Personen als freie, unabhängige Individuen vor, ergibt sich daraus nicht nur ein Unterschied bei Fragen der kollektiven Verantwortung über Generationen hinweg, sondern es schließt auch noch einen Aspekt ein, der weiter reicht: Denkt man den moralisch Handelnden in dieser Weise, hat das Folgen für die Art, in der wir über Gerechtigkeit in einem umfassenderen Sinn nachdenken. Die Vorstellung, wir seien frei entscheidende, unabhängige Individuen, stützt die Idee, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit, die unsere Rechte bestimmen, nicht auf irgendwelchen moralischen oder religiösen Entwürfen beliebiger Art beruhen, sondern vielmehr versuchen sollten, gegenüber konkurrierenden Visionen des guten Lebens neutral zu sein.
Die Anforderungen der Gemeinschaft
Die Schwäche der liberalen Vorstellung von Freiheit ist eng mit ihrem größten Reiz verbunden. Wenn wir uns als unabhängige Individuen verstehen – frei von Bindungen, die wir nicht selbst gewählt haben –, dann ergibt eine ganze Reihe moralischer und politischer Verpflichtungen, die wir gewöhnlich anerkennen und achten, für uns keinen Sinn. Dazu zählt die Pflicht zu Solidarität und Loyalität, historischem Gedenken und religiösem Glauben – moralische Forderungen, die sich aus den Gemeinschaften und Traditionen ergeben, die unsere Identität formen. Solange wir uns nicht als prinzipiell befangene Individuen sehen, die gegenüber nicht selbst gewollten Forderungen offen sind, ist es schwierig, in diesen Aspekten unserer moralischen und politischen Erfahrungswirklichkeit einen Sinn zu erkennen.
In den 80er Jahren, ein Jahrzehnt, nachdem Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit dem amerikanischen Liberalismus seinen umfassendsten philosophischen Ausdruck gegeben hatte, stellten mehrere Kritiker (zu denen auch ich gehörte) das Ideal des frei wählenden, unbefangenen Individuums mit einer ähnlichen Gedankenführung in Frage. Sie verwarfen die Behauptung, das Recht habe Vorrang vor dem Guten, und meinten, über Gerechtigkeit lasse sich nicht nachdenken, wenn wir von unseren Zielen und Bindungen absähen. Sie wurden als »kommunitaristische« Kritiker des zeitgenössischen Liberalismus bekannt.
Die meisten Kritiker konnten sich mit diesem Etikett nicht anfreunden, weil es an die relativistische Vorstellung anzuknüpfen schien, wonach Gerechtigkeit einfach das sei, was eine beliebige Gemeinschaft als solche definiere. Diese Besorgnis bringt einen wichtigen Punkt ans Licht: Vorgaben der Gemeinschaft können repressive Züge annehmen. Die Freiheit im liberalen Sinn entwickelte sich als Gegengift zu politischen Theorien, die den Menschen ein Schicksal zuwiesen, das durch Kaste oder Klasse, Stellung oder Rang, Gewohnheit, Tradition oder ererbten Status bestimmt war.
Wie also ist es möglich, das moralische Gewicht der Gemeinschaft anzuerkennen und der Freiheit des Menschen weiterhin Raum zu lassen? Falls die
Weitere Kostenlose Bücher