Gerissen: Thriller (German Edition)
überdreht, dass sie dem Verstand einer anderen entsprungen sein mochte; dennoch die Wahrheit. Ivy sagte nur: »Fang mit dem Eissturm an.«
Eine weitere halbe Meile leerer Straße glitt vorüber. Ivy begann zu glauben, er hätte sie nicht gehört, als Harrow begann: »Glas auf Glas.«
»Ich liebe diese Zeile«, sagte Ivy. »So schauerlich. Aber was ist wirklich passiert?«
»Was wirklich passiert ist?«, erwiderte Harrow. »Ich dachte, so würde man das Autorenspiel nicht spielen.«
Sie löste ihren Arm von seinen Schultern. »Das ist kein Spiel.«
Sein Blick glitt zu ihr hinüber. »Stehen wir demnach auf derselben Seite?«
Sie lachte. Er lachte auch. »Vom Eissturm gibt es nicht viel zu erzählen«, fuhr er fort, als das Gelächter verklungen war. »Meine Eltern kamen bei einem Autounfall in Kanada ums Leben, wie du sicher schon herausgefunden hast. Danach habe ich bei den Lusks gelebt. Mrs. Lusk und meine Mutter waren Kusinen.«
»Damals warst du sieben oder acht?«, fragte Ivy, die sich zu erinnern versuchte, was der Football-Trainer der West Raquette High ihr erzählt hatte.
»Fünf«, korrigierte Harrow.
»Wie war Mrs. Lusk?«, fragte Ivy.
»Eine Hure«, sagte Harrow. »Obwohl ich erst Jahre später verstanden habe, was das wirklich bedeutet. Sie hat ihre Freier unten im Kellerschlafzimmer bedient, das ich mir mit Marv teilte, weil sie Skrupel hatte, das Ehebett zu benutzen. Mr. Lusk hätte das nicht gleichgültiger sein können. Ironie – richtig, Prof? Er war Fernfahrer, bis er seinen Führerschein verlor – selbstverständlich Alkoholiker, von der aggressiven Sorte. Soll ich dir seinen Gürtel beschreiben?«
»Nein.« Ivy wäre in Tränen ausgebrochen, wenn sie ein Wort mehr gesagt hätte. So leicht vorstellbar, wie sich ein kleiner Waisenjunge in eine Traumwelt geflüchtet hatte. Sie erinnerte sich an die Zeilen, die er in der Bücherei von Dannemora vorgelesen hatte – wenn man es denn so nennen konnte: Man sagt, das ganze Leben drehe sich um Zusammenhänge, als wäre das eine gute Sache. Aber wenn Verstand und Augen zusammenarbeiten, weiß man es besser. Eine Einsicht, die sie ihrer Eleganz wegen bewundert hatte, aber jetzt erst wirklich verstand. Gleichzeitig dachte sie: Aber was ist die Alternative? Und platzte heraus: »Ich habe über das Mädchen mit den Locken nachgedacht. Die Tochter in deiner Story. Erst dachte ich, sie wäre die Tochter von dir und Betty Ann. Aber alle sagen, du hättest keine Tochter. Stimmt das?«
»In der Wirklichkeit ja«, sagte Harrow.
»Und deshalb habe ich mich gefragt, ob das Mädchen mit den Locken deine Schwester gewesen ist und vielleicht auch bei dem Unfall starb.«
Vor ihnen öffnete sich die Landschaft. Dunkle Felder neigten sich zu einer noch dunkleren Horizontalen: der Fluss. Am anderen Ufer blinkten Lichter.
»Du bist so gut«, sagte Harrow.
»Was heißt das?«
»Du kannst dir Dinge vorstellen, die man sich nicht vorstellen kann«, sagte Harrow. »Es gibt keine Schwester.« Ein Schild glitt vorbei: RAQUETTE – SIE BETRETEN STAMMESLAND. Er war eine Strecke gefahren, die sie nicht kannte. »Es sei denn, du zählst Marvs Schwester mit«, fügte er hinzu, während er abbremste. »Sie war viel älter. Ebenfalls Nutte.«
Harrow bog auf eine Straße ab, die durch dichtes Unterholz führte und an einem baufälligen Schuppen endete. Er parkte dahinter. »Ein bisschen zu früh«, sagte er, obgleich Ivy keine Ahnung hatte, woher er das wusste. »Aber bei solchen Abenteuern ist man besser als Erster da. Hast du die Taschenlampe?«
»Ja.«
Er streckte die Hand aus.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Ivy, während sie ihm die Lampe reichte. »Er wird mir Fragen stellen, zum Beispiel, wie ich ihn gefunden habe und wer sonst noch davon weiß.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Harrow und kletterte aus dem Pick-up.
»Aber was soll ich antworten?«
»›Zeig mir das Geld‹«, sagte Harrow. »Die Sprache versteht er.«
Sie folgte ihm auf einem schmalen Pfad durch die Bäume. Er hielt die Taschenlampe, benutzte sie aber nicht. »Noch etwas«, begann sie.
Er packte ihren Arm, fest.
Ivy schwieg.
Sie gingen nur ungefähr dreißig Meter, ehe sie den Wald verließen und den holprigen Feldweg entlang des Flusses erreichten. Auf der anderen Seite des Wegs stand die Weide, ein riesiger, niedriger Atompilz in der Nacht, und an ihrem Fuß der Bootsanleger, der sich ins Wasser neigte.
Harrow schaltete die Taschenlampe ein, die Hand über das Glas gewölbt.
Weitere Kostenlose Bücher