Gerissen: Thriller (German Edition)
Flammen blind gewesen war, breitete sich über den Himmel, und in diesem Licht sah Ivy Mandrell auf das Boot zurennen, Harrow dicht hinter sich. Harrow hielt eine Schrotflinte – die Schrotflinte aus Hütte eins? – in den Händen, hielt sie am Lauf, den Schaft hoch erhoben.
Mandrell gurgelte wimmernd, wie ein verängstigtes Tier. Harrow ließ den Schaft mit solcher Wucht auf Mandrells Hinterkopf krachen, dass er durch die Luft pfiff. Mandrell fiel mit dem Gesicht nach unten ins Wasser. Harrow ließ die Waffe fallen und sprang hinterher.
Auch Ivy sprang hinein. Harrow umklammerte Mandrell und drückte ihn nach unten.
»Halt! Aufhören!« Er musste aufhören. Das alles musste aufhören.
Aber Harrow hörte nicht auf. Er knurrte, die Muskelstränge an seinem Körper traten hervor.
»Aufhören!« Ivy zog, zerrte, riss an ihm. Endlich packte sie eine Hand voll Haare und riss mit aller Kraft. Er erschlaffte, drehte sich zu ihr um, kein Wiedererkennen im Blick.
Mandrell trieb an die Oberfläche. Ivy barg seinen Hinterkopf – weich und schleimig, wo er eigentlich fest sein sollte – in den Händen, hielt ihn über die Oberfläche. Seine Augen standen offen. Er hustete Wasser. Harrow beugte sich mit gebleckten Zähnen über ihn.
»Um Gottes willen, hör auf!«, rief Ivy. »Er wird uns alles über Betty Ann erzählen.«
Mandrell starrte sie direkt an. Sein Mund öffnete sich. »Hapert’s bei dir?«, fragte er. Dann strömte Blut heraus, unaufhaltsam.
Dreißig
D anach waren sie unterwegs. Eine Weile sah Ivy nicht viel, konnte nichts gegen den dunklen Wirbel tun, der sich hinter ihren Augäpfeln ausbreitete. Ihre Erinnerung hatte nur wenig gespeichert: Harrow, der Mandrells Leiche so mühelos ins Boot warf, als wäre sie mit Stroh gefüllt; Harrow, der die Leine löste, und das Boot, das den Fluss hinuntertrieb; Harrow, der die Schrotflinte aufhob. Sie überquerten die Straße, rannten nicht, obgleich Ivy den Eindruck erheblicher Geschwindigkeit hatte. An diesem Punkt, mitten auf der Straße, Harrow bereits am Anfang des Pfads, der zu dem hinter dem baufälligen Schuppen parkenden Pick-up führte, bemerkte Ivy eine kurze Bewegung zu ihrer Rechten. Sie drehte sich um und sah, wie der Riese, ein blutiger Haufen, den Kopf ein paar Zentimeter von der Straße hob. Sein Blick irrte umher, fand sie, sandte ihr eine Art Botschaft.
Ivy wusste nicht, was für eine Botschaft; aber sie hatte nichts zu tun mit Hass, Rache, Gier, Verbrechen, nichts dergleichen.
Sie lief weiter.
Denn – denn welche Alternative hatte sie? Es Harrow erzählen? Was würde danach geschehen? Ivy wollte es nicht wissen. Und etwas anderes fiel ihr nicht ein; deshalb ließ sie den Mann auf der Straße liegen, noch am Leben. Ein paar Schritte später ertönte ein unangenehmes Geräusch, das ihr Verstand sich zu erkennen weigerte und es dann doch tat: Sirenen, in voller Fahrt.
Sie stiegen in den Pick-up. Diesmal blieb Ivy auf ihrer Hälfte der Bank. Harrow fuhr los und ließ den baufälligen Schuppen hinter sich. Ihr Körper wurde noch immer von der Empfindung viel zu hoher Geschwindigkeit beherrscht, wie auf einer Achterbahn, im letzten Looping, obwohl die Nadel auf dem Tacho nie die Höchstgeschwindigkeit anzeigte. Sie glitten durch das Unterholz, auf die Teerstraße, dann zurück auf Feldwege; Ivy hatte die Orientierung verloren.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Wir haben mehrere Möglichkeiten«, antwortete Harrow.
»Und die wären?«
Er gab ein kurzes Geräusch von sich, halb Lachen, halb Schnauben. »Allmählich klingen wir wie ein altes Ehepaar«, sagte er.
Die Bemerkung verblüffte sie aus verschiedenen Gründen, aber drei waren sofort ersichtlich. Erstens, woher wusste er, wie alte Ehepaare klingen? Zweitens, was ging in ihm vor, dass er in der Lage war, so kurz nach dem, was passiert war, solche Dinge zu denken? Und drittens hatte er recht.
Ivy starrte stur geradeaus durch die mit toten Insekten und Vogelkot verschmierte Windschutzscheibe. »Hast du mich da eben benutzt?«, fragte sie.
»Dich benutzt?«
»Als Köder.«
»Ach, komm«, sagte Harrow. »Du hast Frankie ganz allein gefunden. Und hast du mir nicht erzählt, sie wären bei deiner Wohnung gewesen?«
»Ja.«
»Hast du geglaubt, Frankie würde das einfach so hinnehmen?« Sie antwortete nicht. »Hast du zufällig einen Blick in das Boot geworfen?«, fragte er.
»Ja«, sagte Ivy. Wenn Harrow nicht gewesen wäre, läge sie jetzt mit Gewichten beschwert auf dem
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