Gerissen: Thriller (German Edition)
Ölstand zu kontrollieren, obwohl sie ihn mindestens fünfzigmal auf das Leck hingewiesen hatte.
Der rote Saab war in jeder Hinsicht besser, zumal sie ihn von ihrem eigenen Geld bezahlte. Und er verlor kein Öl; Bruce hatte ihn genauso pedantisch gewartet, wie er alles im Leben anfasste. Ivy fuhr mit heruntergekurbelten Scheiben, obwohl dieser Dienstag viel kühler war, der Himmel bedeckt, das Laub seinen Höhepunkt hinter sich hatte, der Farbregler heruntergedreht war. Sie schaltete das Radio ein und sang mit.
Taneesha war eine der zwei Wachen, die die unterirdische Pforte zwischen Verwaltung und Gefängnis bewachten. »Treu wie Gold«, sagte sie.
»Hä?«, machte der andere Wachmann.
»Ivy hier. Die Leiterin der Schreibwerkstatt. Sie ist wieder da.«
»Schon was veröffentlicht?«, fragte der andere Wachmann, während er ihr das Tablett hinhielt.
»Nein«, erwiderte Ivy und deponierte ihren Führerschein und die Schlüssel darauf. Diesmal keine Kulis, ihr Handy hatte sie im Auto gelassen.
»Mein Cousin hat einen Cartoon verkauft«, verkündete der Wachmann. »Hat ihm hundertfünfzig Dollar eingebracht.«
»Wer hat gekauft?«, fragte Ivy.
»Weiß ich nicht mehr«, sagte der Wachmann. »Eins von diesen Bumsblättern.«
Taneesha stempelte Ivys Handrücken mit dem unsichtbaren BESUCHER, und sie trat störungsfrei durch den Metalldetektor – heute ohne Gürtel und Schuhe. Das große Gewölbe dahinter war bis auf einen Häftling, der einen Wäschekarren vor sich herschob, leer. Ivy durchquerte es und folgte dem breiten Korridor auf der anderen Seite zur Bücherei. Moffit saß auf seinem Stuhl.
»Hi«, grüßte Ivy.
Er nickte.
Sie ging hinein.
Drei Männer saßen um den Tisch, alle auf ihren vorherigen Plätzen: Morales links, El-Hassam am schmalen Ende, Perkins rechts.
»Hi, alle zusammen«, grüßte sie.
Sie sahen mit teilnahmslosen Mienen auf.
Ivy setzte sich an ihr Tischende, wollte ihre Aktenmappe öffnen, zögerte.
»Ich war ganz erschrocken, als ich von Felix gehört habe«, sagte sie, irgendwie verrückt, als würde sie seiner Familie ihr Beileid aussprechen.
Aber vielleicht genau das Richtige, denn Perkins gab eine Art Grollen von sich, das freundlich gemeint sein mochte, und El-Hassam nickte auf eine Weise, die man vielleicht feierlich nennen konnte. Morales verzog keine Miene.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum ihm jemand … das antun sollte«, fuhr Ivy fort. »Er schien so harmlos.«
»Vielleicht hat er es selbst getan«, sagte Morales.
Perkins lachte, ein sattes Kichern.
»Das ist doch nicht möglich, oder?«, sagte Ivy.
»O doch«, sagte El-Hassam. »Sogar sehr gut.«
»Aber nicht in diesem Fall«, widersprach Ivy. »Sonst wäre doch keine Kontaktsperre verhängt worden.«
Niemand reagierte darauf. Die Ader in Morales’ Arm zuckte kurz; was Ivy aus irgendeinem Grund an das Strampeln eines Babys im Mutterleib erinnerte.
Mit leicht zitternden Händen griff sie nach ihrer Aktenmappe, und plötzlich wurde ihr etwas bewusst, das ihr von Beginn an hätte auffallen müssen. Fakt Nummer eins: wie groß sie waren – besonders Perkins und Morales – und wie klein sie selbst. Aber nun folgte ein Paradox: Vielleicht half dieses Missverhältnis ihr beim Unterricht.
»Hier sind ein paar Bleistifte«, sagte sie. »Und ich habe das Gedicht abgetippt, das Sie geschrieben haben.« Sie verteilte mit ruhiger Hand die Kopien.
Die Männer studierten ihr Werk.
»Sieht gut aus, so sauber getippt«, meinte Perkins. »Professionell.«
Morales hieb auf den Tisch. »›Leuchtend oranger Camaro!‹«, sagte er, die Stimme voller Entzücken, als wäre die Zeile vollkommen neu für ihn. Mit versunkener Miene las er das Gedicht, seine Lippen bewegten sich.
»Ihr Titel?«, fragte El-Hassam.
»Nur ein Vorschlag«, erwiderte Ivy. Über den ersten Absatz hatte sie Ursache und Wirkung geschrieben.
»›Ursache und Wirkung‹?«, sagte Perkins.
Morales sah auf. »Was soll’n das heißen?«
»Ich fand, es passt zu dem Gedicht«, erwiderte Ivy.
»Ursache?«, fragte Morales. »Wirkung?«
»Aber ich bin sicher, dass uns noch was Besseres einfällt«, sagte Ivy. »Irgendwelche Vorschläge?«
»›Leuchtend oranger Camaro‹«, sagte Morales.
»Was ist mit dem Shakespeareteil?«, sagte Perkins.
»Scheiße«, sagte Morales. »Der ist nicht mal original.«
»Es muss auch nicht –«, begann Ivy, dann hörte sie hinter sich Schritte. Sie drehte sich um und sah einen Häftling eintreten,
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