Gerissen: Thriller (German Edition)
Steinkamin hinter der Frau brannte ein Feuer. Musik lief: Opernmusik, mit der Ivy sich nicht auskannte.
»Und wohin wollen Sie jetzt?«, fragte die Frau.
Ivy lachte. »Nirgendwohin. Ich möchte für die Nacht eine Hütte mieten.«
»Um diese Jahreszeit?«, fragte die Frau.
»Haben Sie geschlossen?«, sagte Ivy.
»Nicht offiziell«, sagte die Frau. »Ich muss Ihnen was berechnen.«
Davon war Ivy selbstverständlich ausgegangen. War die Frau betrunken? Ivy konnte auch ausgezeichnet verschiedene Stadien von Trunkenheit bestimmen, doch diesmal gelang es ihr nicht. Sie konnte nur feststellen, dass die Augen der Frau jetzt dunkler wirkten als am Morgen. Aber das traf auch auf den See hinter dem Hüttenfenster zu, was bedeutete, dass beide noch immer dieselbe Farbe hatten.
»Wie viel?«, erkundigte sich Ivy.
»Kommt darauf an, ob ich den Generator anwerfen soll«, erwiderte die Frau.
Ein Gewehr – nein, eine Schrotflinte, mit Doppelläufen – lehnte in einer Ecke. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Können Sie eine Nacht ohne Strom auskommen?«
Warum nicht? Der Akku ihres Laptops war voll, und Bruce hatte eine Taschenlampe im Handschuhfach des Saab hinterlassen. »Sicher.«
»Können Sie ein Feuer in Gang halten?«
»Ja.«
»Und daran denken, nur ein Mal abzuziehen, ehe Sie aufbrechen?«
»Okay.«
»Dann brauchen Sie den Generator nicht«, entschied die Frau. »Zehn Dollar.«
Ivy gab ihr das Geld. »Ivy Seidel«, stellte sie sich vor.
»Jean Savard«, erwiderte die Frau.
Sie schüttelten sich die Hand. Jeans war kalt und klamm.
»Bei der Abkürzung habe ich oben einen Bären gesehen«, erzählte Ivy.
»Mhm«, sagte Jean. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt.« Sie reichte Ivy einen Schlüssel mit einer Vier darauf.
Hütte vier war die letzte, am weitesten vom Büro entfernt. Ivy schloss die Tür auf und trat ein. Kalt, aber perfekt: knorrige Kieferndielen, Messingbett mit sauberen weißen Kissenbezügen und einem rosaroten Federbett, am Fenster mit Blick auf den See ein einfacher Schreibtisch samt Stuhl. Und ein Steinkamin wie der in Jeans Hütte, Scheite und Anzünder schon aufgeschichtet. Ivy öffnete den Abzug, entdeckte Streichhölzer neben der Halterung für das Schüreisen, und bald brannte ein schönes Feuer. Draußen auf dem See kräuselte etwas die Oberfläche.
Ivy setzte sich an den Tisch und zog Harrows Akte aus der Mappe. Oben auf der ersten Seite ein voller Name aus der Nachnamenzone: Evan Vance Harrow.
Dann folgten Fingerabdrücke, beide Hände, Finger und Daumen. Ivy untersuchte sie gründlich, als könnten sie ihr etwas verraten. All diese schwarzen Wirbel bargen eine gewisse Schönheit, die Ivy an eine Fotografieausstellung über Schatten und Sanddünen erinnerte, die sie in der MoMA in Queens besucht hatte. Und war es nicht ein wenig rührend, dass jeder einzelne Mensch, der jemals über diesen Planeten gewandert war, ebenfalls diese winzigen Zeichen trug? Puh. Manchmal war sie eine Idiotin. Das Entscheidende an Fingerabdrücken waren deren Unterschiede, nicht die Gemeinsamkeiten. Waren Harrows Fingerabdrücke irgendwie anders? Natürlich nicht für das bloße Auge, und für ihre Augen sowieso nicht.
Nach den Fingerabdrücken folgten zwei Schwarzweißfotos, von vorn und im Profil, Fahndungsfotos. Um seinen Hals hing sogar eine Nummer – RG17859. Auf den Fotos sah Harrow völlig anders aus. Zum einen jünger, sein Gesicht, mittlerweile ein wenig faltig zwischen den Augen, war noch völlig glatt. Außerdem war sein Haar sehr viel länger und strähnig gewesen, und er hatte ein hässliches Ziegenbärtchen getragen. Heute sah er wesentlich besser aus, irgendwie ein Widerspruch, schließlich hatte er die letzten – ihr Blick glitt über die Seite – sieben Jahre im Gefängnis verbracht. Wen machte Haftzeit attraktiver?
Evan Vance Harrow. Geboren: vor einunddreißig Jahren in New York. Verhaftungen: mit siebzehn wegen Körperverletzung, nicht angeklagt; mit achtzehn wegen Autodiebstahl, sechs Monate auf Bewährung; mit zwanzig wegen Besitz von Einbruchswerkzeug, ein Jahr, Strafe ausgesetzt; mit dreiundzwanzig wegen Mord und bewaffnetem Raubüberfall, fünfundzwanzig Jahre ohne Bewährung.
Sie blätterte ein paar pergamentdünne Seiten durch, auf denen nicht viel stand.
In Dannemora: Schlägerei in der ersten Woche; Schlägerei in Woche zwei; Schlägerei in Woche drei; Woche vier bis heute: sauber.
Psychologischer Befund: keine diagnostizierbaren Auffälligkeiten. Der Gefangene
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