Gerissen: Thriller (German Edition)
hat sich an das Gefängnisleben angepasst.
Kein Wort über eine Freundin mit schlechtem Urteilsvermögen, eine Tochter mit hüpfenden Löckchen, Glas auf Glas. Ivy ging Harrows Akte noch einmal durch, mit dem seltsamen Gefühl, jetzt weniger zu wissen als zuvor. Sie versuchte, etwas in seinem Blick zu lesen, aber Harrow hatte der Kamera nur Abwesenheit gezeigt: von Furcht, Angst, Zorn, Ergebenheit, Trotz oder jeder anderen Emotion, die man erwarten konnte. Was hatte er gedacht? Das Unerwartete; das bewies sein Schreiben eindeutig.
Draußen nahm der Wind zu, wühlte das Wasser auf. Wie eine Gänsehaut, als wäre dem See kalt. Ivy griff nach ihrem Handy und rief Sergeant Tocco an.
»Ich habe Harrows Akte gelesen.«
»Mhm.«
»Warum nennt man sie eigentlich Kladde?«
»Keine Ahnung.«
»Darin steht, dass er fünfundzwanzig Jahre wegen Mord und bewaffnetem Raubüberfall sitzt.«
»Korrekt.«
»Aber Einzelheiten werden nicht genannt.«
»Einzelheiten?«
»Was genau passiert ist, wo, wann, diese Sachen.«
»Was wäre das für ein Unterschied?«
»Es könnte mir helfen, ein wenig besser zu verstehen, was er schreibt.«
»Was er schreibt ist schwer zu verstehen?«
»In gewisser Weise ja.«
»Benutzt er schwierige Wörter?«
»Daran liegt es nicht«, sagte Ivy. Draußen vor dem Fenster ging Jean Savard, die mittlerweile einen Schlafanzug trug, zum Ufer hinunter und warf eine leere Flasche in den See. »Hatte sein Verbrechen etwas mit einem Autounfall zu tun, vielleicht mit einem kleinen Mädchen, das überfahren wurde?«
»Nein«, erwiderte Sergeant Tocco. »Aber Sie können darauf wetten, dass für jedes Verbrechen, für das sie verknackt werden, drei oder vier andere unentdeckt bleiben.«
»Was hat er getan?«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Sergeant Tocco. »Ich grabe etwas aus und gebe es Ihnen, wenn Sie das nächste Mal kommen.«
Eine ganze Woche. »Eigentlich bin ich noch hier in der Gegend«, sagte Ivy.
»Mhm.«
Jean starrte auf den See hinaus. Ihre Schlafanzughosen plusterten sich im Wind. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht«, meinte Ivy, »könnte ich jetzt noch mal rüberkommen.«
»Rüberkommen?«
»Und mitnehmen, was Sie gefunden haben. Ich kann in einer halben Stunde da sein.«
»Nicht gut«, sagte Sergeant Tocco. »Ich mache in zwanzig Minuten Feierabend.«
»Es würde mir sehr helfen.«
»Mir nicht.«
»Wie sieht es mit morgen aus?«
»Mein freier Tag.«
»Vielleicht könnten Sie es auf dem Schreibtisch liegen lassen.«
Schweigen.
Dann lachte Sergeant Tocco, ein kurzes Bellen. »Ist das typisch für Schriftsteller?«, fragte er. »Kein Nein gelten zu lassen?«
»Ja«, erwiderte Ivy, der diese Wahrheit bewusst wurde, während sie sie aussprach.
»Schriftsteller sind Nervensägen«, sagte Sergeant Tocco. »Das habe ich bei diesem Programm gelernt. Sie können genauso gut ins Haus kommen.«
»Ins Gefängnis?«, fragte Ivy, die dabei großes Haus dachte.
»Teufel, nein«, sagte Sergeant Tocco. »Glauben Sie, ich bleibe hier auch nur eine Sekunde länger, als ich muss? Ich meinte mein Haus.« Er beschrieb ihr den Weg. »Bis in einer Stunde.«
Ivy blickte aus dem Fenster. Jean war nicht mehr zu sehen. Ivy kam ein verrückter Gedanke: Sie ist im See. Dann hörte sie Jeans Stimme: »Rocky!«, und ein großer Hund rannte vorbei, als würde Futter in der Schüssel warten.
Sergeant Tocco lebte am nördlichen Rand der Stadt, ungefähr drei Meilen vom Gefängnis entfernt. Sein Haus war klein, frisch weiß gestrichen, mit limabohnengrünen Rahmen, einem richtigen Lattenzaun, ebenfalls weiß, und einem komplett von Laub gesäuberten Rasen, obgleich es sich auf den Rasenflächen der Nachbarn und der Straße häufte. Keiner der Nachbarn hatte einen Lattenzaun, oder überhaupt einen Zaun.
»Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?«, fragte Sergeant Tocco, der mittlerweile die Uniform abgelegt hatte und in Jeans und Sweatshirt fast ein anderer Mensch zu sein schien.
»Ich möchte nichts, danke.«
Sie saßen im Wohnzimmer, klein, makellos. Auf dem Kaminsims stand das Foto einer weißhaarigen Frau, neben einem Körbchen mit lackierten Maiskolben.
»Ihr Haus gefällt mir«, sagte Ivy.
»Hab ich letztes Jahr gekauft«, sagte Sergeant Tocco. »An meinem dreißigsten Geburtstag.«
Das versetzte ihr einen Schock; nicht sein Besitzerstolz, sondern die Tatsache, dass er zehn Jahre älter aussah, vielleicht mehr.
»Wie sieht es denn bei Ihnen aus?«, fragte er.
Ivy erzählte
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