Gerissen: Thriller (German Edition)
auf. Harrow beobachtete sie.
»Wo haben Sie das gelernt?«, fragte sie.
»Was gelernt?«
»So zu schreiben.«
»Taugt es denn was?«
»Wissen Sie das nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Waren Sie auf dem College?«
»Dazu braucht man einen Highschool-Abschluss«, sagte Harrow.
»Sie haben keinen?«
»War nah dran.«
Ivy las die Geschichte noch einmal. »Warum haben Sie die Zeitebene gewechselt?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Harrow.
»Der erste Absatz ist in der Vergangenheit, der zweite in der Gegenwart.«
»Echt?«, fragte Harrow. Er stand auf, kam um den Tisch, las über Ivys Schulter. Sein Bein drückte ein bisschen gegen die Rückenlehne ihres Stuhls.
»He, Sie haben recht«, sagte er und ging zu seinem Stuhl zurück, einfache, alltägliche Bewegungen, die Ivy nicht hätten beeindrucken dürfen, es aber wegen ihrer Effizienz und Ungezwungenheit taten.
»Sie müssen in Ihrer Jugend viel gelesen haben«, sagte sie.
Harrow schüttelte den Kopf. »Aber jetzt schon.«
»Was lesen Sie?«
»Im Augenblick habe ich meine Louis-L’Amour-Phase.«
Ivy hatte den Namen schon gehört, konnte ihn aber nicht unterbringen. Harrow ging zu den Regalen und brachte ihr ein abgegriffenes Taschenbuch mit einem stählern blickenden Revolverhelden auf dem Cover.
»Den habe ich nie gelesen«, sagte Ivy.
Noch immer hinter ihr stehend meinte Harrow: »Ich mag die weiten Räume.«
Ivy spürte ein komisches Kribbeln im Rückgrat, als hätte ihr jemand ins Ohr gepustet. Sie senkte die Stimme. »Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte sie.
»Auskunft«, sagte er mit ebenfalls gesenkter Stimme; und jetzt spürte sie seinen Atem wirklich in ihrem Haar. »Ist das ein Problem?«
Ivy stand auf und sah ihm ins Gesicht. »In Bezug auf im Vorfeld abgesegnete Listen und R-Gespräche ja«, sagte sie. »Von Handys ganz zu schweigen.«
»Ja«, meinte Harrow. »Davon schweigen wir besser.« Er lächelte. »Aber in Bezug auf die Leiterin der Schreibwerkstatt – gibt es da ein Problem?«
Ivy dachte darüber nach. Sie dachte immer noch, als Harrow sich rasch zurückzog.
Taneesha steckte den Kopf in den Raum. »Zeit«, sagte sie.
Harrow stellte Louis-L’Amour zurück ins Regal und ging zur Tür. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Besteht die Möglichkeit, dass ich etwas von Ihnen lese?«
Ivy sah in ihrer Mappe nach. Darin fand sich El-Hassams Gedicht über das Messer, Harrows Akte, Tony B.s Artikel über das Gold-Dust-Urteil, Whits Ablehnungsbescheid – und eine Kopie von »Höhlenmann«. Die gab sie Harrow.
»Cooler Titel«, sagte er auf dem Weg hinaus.
Ivy lief den Hügel hinauf zu ihrem Auto, die Gefängnismauern zur Rechten, die weite Aussicht auf den Lake Champlain links von ihr. Die leuchtenden Herbstfarben waren schon lange verschwunden, und jetzt waren auch die gedämpften fort. Der rote Saab war das bei weitem leuchtendste Objekt in weitem Umkreis. Ivy schloss ihn gerade auf, als ihr eine Visitenkarte auffiel, die jemand unter den Scheibenwischer gesteckt hatte.
Sergeant Toccos Karte, mit seinem Namen, Dienstgrad und der Telefonnummer auf der Vorderseite. Sie drehte sie um und entdeckte ein einziges Wort.
Danke.
Ivy zerriss sie und warf die Fetzen fort. Als sie in ihr Auto stieg, sah sie einen Wachmann, der sie von hoch oben auf seinem Turm beobachtete.
Ivy fuhr aus der Stadt, erreichte den Highway und hielt am Rand. Bruce hatte einen alten Straßenatlas im Handschuhfach zurückgelassen. Ivy schlug den oberen Teil des Staates New York auf und fand Raquette, einen kleinen Punkt südlich des St.-Lorenz-Stroms. Sie errechnete die Strecke von Dannemora aus: 67 Meilen.
Ivy nahm ihr Handy und rief im Verlaine’s an. Dragan meldete sich.
»Ivy? Bist du das?«
»Ist Bruce da?«
»Gott sei Dank nein«, sagte Dragan.
»Ist was passiert?«
»Großreinemachen mit Chen-Li.«
Chen-Li war der Koch. »Sag nicht, er hat ihn gefeuert.«
»O nein«, erwiderte Dragan. »Chen-Li hat als Erster gekündigt. Ich bin gerade damit fertig, den Schaden aufzuwischen.«
»Gott.«
»Irgendeine Nachricht?«, fragte Dragan.
»Sag ihm –« Ivy zögerte, sie hatte das mit Bruce noch nie gemacht. Nicht ein einziges Mal. »Sag ihm, dass ich heute Abend nicht kommen kann.«
»Du kannst deine Schicht nicht arbeiten?«, vergewisserte sich Dragan.
»Nein.«
»Du bist krank –«
»Nein. Sag ihm einfach, ich schaffe es nicht.«
»Ich? Ich sag es ihm?«
»Frag Anya«, sagte Ivy. »Vielleicht arbeitet sie eine
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