Gerissen: Thriller (German Edition)
schicken Vorort im westlichen Teil der Stadt. Sie parkte vor dem großen Steinhaus 458 Rue Rançon, das auf die Namen von Jake und Marie McCord eingetragen war.
Und nun? Ivy war unsicher. Sie konnte aussteigen und an die Tür klopfen – aber was, falls Frank Mandrell öffnete? Oder einfach sitzen bleiben und abwarten. Ivy blieb sitzen und wartete ab. Eine Bö trieb totes Laub von einem Rasen und wehte es in die Gosse. Es häufte sich zu einem kleinen Hügel; dann trieb ein weiterer Windstoß es auseinander, und es war erneut unterwegs. Ivys Gedanken wanderten zu Die Vermesserin. Die Welt der Vermesserin stimmte nicht. Die Vermesserin würde lernen müssen – und das auf äußerst schmerzhafte Weise –, dass auch sie selbst nicht stimmte. Vielleicht war die Vergangenheit der Vermesserin nicht so, wie sie geglaubt oder wie man ihr erzählt hatte.
Wo anfangen? Professor Smallian war der Überzeugung, dass die meisten Geschichten eher wegen ihres falschen Anfangs scheiterten denn aus anderen Gründen. Ivy grübelte eine Weile darüber nach, begann sich zu fragen, wie eigentlich Vermessungsinstrumente aussahen. Es war wichtig, all das zu lernen, die praktischen Grundlagen, die erforderlich waren …
Ivy war so in Gedanken versunken, dass sie beinahe nicht gemerkt hätte, wie sich das Tor der Garage von 458 öffnete. Ein großer schwarzer Mercedes glitt heraus, Frank Mandrell hinter dem Steuer, dessen langes blondes Haar über dem dunklen Gesicht so befremdend wirkte. Ivy kauerte sich in ihren Sitz, ein nutzloses Manöver. Mandrell fuhr direkt an ihr vorbei, nicht mal zwei Meter von ihr entfernt. Er musste nur zur Seite schauen; aber er hing am Handy und sah nichts. Der Mercedes bog um die Ecke, blitzte kurz zwischen zwei Häusern der Querstraße auf und verschwand.
Ivy warf einen langen letzten Blick auf Betty Anns Gestalt an der Reling auf Claudettes Foto, dann stieg sie aus. Sie ging den Plattenweg hoch und schlug mit dem Klopfer – eine Messingkopie der Venus von Milo – kräftig gegen die Tür.
Schritte auf der anderen Seite. Ivys Herz begann leicht und schnell zu schlagen, wie eine winzige Trommel. Betty Ann Price hatte Frank Mandrell am Anleger getroffen, das Geld mitgenommen, Geld, das sie benutzt hatten, um das Les Girls zu finanzieren und Franks Traum wahr werden zu lassen. Gab es, sobald er dem Zeugenschutzprogramm entronnen war, für die beiden noch einen Grund, sich voneinander fernzuhalten? Nein. Deshalb war das vermutlich einer der Gründe für sein Verschwinden. Einige Einzelheiten passten noch nicht richtig, aber im Kern ergab alles einen Sinn. Betty würde diese Tür öffnen. Und dann? Ivy war nicht ganz sicher, aber es endete mit Harrow als freiem Mann.
Die Tür öffnete sich.
Keine Betty Ann.
Betty Ann wäre jetzt dreißig. Diese Frau war ungefähr fünfzehn Jahre älter, mit scharfen Zügen, einem Kopf voll grauer Locken; eine Zigarette hing in ihrem Mundwinkel.
»Oui?«, sagte sie.
»Marie McCord?«, fragte Ivy.
»Ja?« Marie McCord blinzelte Ivy durch den aufsteigenden Rauch an. Ihr Tonfall, ihr Blick, die Neigung ihres Kopfes: Ivy erkannte das Misstrauen in jedem Detail. »Falls Sie etwas verkaufen wollen, ich habe kein Interesse.«
Ivy schüttelte den Kopf. »Ich suche Betty Ann.«
»Betty Ann?«, wiederholte Marie; Ivy beobachtete sie aufmerksam, der Name sagte ihr nichts.
»Betty Ann Price«, sagte Ivy, noch nicht willens, die Idee aufzugeben.
Marie zuckte die Achseln. »Sie sind an der falschen Adresse.«
»Ich –«
Marie schloss die Tür.
Ivy trat den Rückzug an.
Keine Betty Ann.
Einen Augenblick lang war Ivy schwindelig. Hatten sich Betty Ann und Mandrell irgendwann getrennt, das Geld vielleicht aufgeteilt? Ivy wusste es nicht; die Gold-Dust-Story wollte einfach keinen Sinn ergeben. Aber einige wichtige Punkte waren noch immer sicher: Mandrell hatte eine Affäre mit Betty Ann gehabt; er hatte Harrow hereingelegt; er hatte seinen Traum vom Striplokal verwirklicht; Harrow war unschuldig. Ivy fuhr zum Flughafen, gab den Wagen ab, flog zurück nach New York.
Die Stadt hatte sich verändert. Ivy konnte nicht genau sagen, wie.
Die Qualität des Lichts, die Dichte der Schatten, der Ausdruck auf den Gesichtern, selbst Gesichtern, die sie kannte: alles ein wenig anders, als hätte ein übernatürliches Wesen versucht, New York zu kopieren und wäre dem sehr nahe gekommen. Beunruhigend nahe; und sie hatte sich in New York immer heimisch gefühlt. Es dauerte lange,
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