Gerissen: Thriller (German Edition)
bis sie einschlief, und als der Schlaf endlich kam, war er unruhig.
Ivy wachte auf, kochte Kaffee, putzte ihre Wohnung, duschte und machte einen langen Spaziergang, der sie zum Verlaine’s führte. Für einen Montag war ziemlich viel los: Bruce arbeitete an der Bar, zusammen mit einer schlanken schwarzen Frau, sehr attraktiv, die Ivy noch nie gesehen hatte. Ivy band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz und stellte sich neben Bruce hinter die Bar.
Er goss ein Glas Roten ein, diesen chilenischen Pinot, den er für absolut unterbewertet hielt, und sah sie nicht an.
»Ivy?«, sagte er. »Was willst du?«
»Meine Schicht arbeiten.«
»Schicht?«, wiederholte er, während er den Pinot einem Gast zuschob, der vorsichtig daran schnüffelte.
»Montag, von elf bis sieben«, sagte Ivy. Jetzt drehte er sich zu ihr um. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht. »Tut mir leid, dass ich ein paar Minuten zu spät bin«, fügte sie hinzu.
Die andere Barkeeperin musterte sie ebenfalls.
»Ein paar Minuten zu spät?«, sagte Bruce.
Ivy sah auf ihre Uhr. »Es ist drei Minuten nach.«
»Ich probier den mal«, sagte ein anderer Kunde.
Bruce ignorierte ihn. »Bist du zugedröhnt oder so?«, erkundigte er sich.
»Zugedröhnt?«, fragte Ivy. »Natürlich nicht.«
»Dann soll das wohl ein Witz sein?«, meinte Bruce. »Ein Versuch zu scherzen?«
»Ich verstehe nicht.«
»Den Pinot«, sagte der andere Gast. »Aus Chile.«
»Es ist Dienstag«, sagte Bruce. »Tu nicht so, als ob du das nicht wüsstest.«
»Dienstag?«, wiederholte Ivy. Hatte sie rund um die Uhr geschlafen?
»Es ist nicht mal originell«, sagte Bruce. »Vor ein paar Jahren hat ein anderes Mädchen schon dasselbe versucht.«
Mittlerweile hörte die ganze Bar zu, Blicke wanderten von links nach rechts wie beim Tennis.
Ivy senkte die Stimme. »Das ist keine Ausrede, Bruce. Ich muss wirklich –«
Bruce griff nach einem Korkenzieher und einer weiteren Flasche chilenischem Pinot. »Du hast den Bogen überspannt«, sagte er. »Ich habe mir einen ausgerenkt. Du weißt es, und ich weiß es.« Seine Hände zitterten. »Dein Scheck liegt im Büro.«
Ivy trat den Rückzug an. Einen Augenblick sah sie ihr Spiegelbild, rotes Gesicht, verzerrt, fast eine Fremde. Pinot lief über den Rand des Glases, das Bruce eingoss.
Bruce’ Büro, eigentlich ein begehbarer Schrank, befand sich direkt neben der Küche. Der neue Koch brüllte in einer Sprache, die Ivy nicht erkannte. Sie betrat das Büro. Dragan war dort.
»In echt?«, fragte er. »Der Boss feuert dich?«
»In echt«, antwortete Ivy, während sie ihren Scheck aus ihrem Fach nahm. Ihr Namensschild war bereits entfernt worden.
»Mein Herz ist krank«, sagte Dragan.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Ivy. »Das kommt alles in Ordnung.«
Dragan musterte sie. »Cool«, meinte er. »Das ist die berühmte Art, in der amerikanische Frauen mit Rückschlägen fertig werden – ich habe das bei Oprah gesehen.« Ivy bemerkte ein dickes, in Packpapier eingeschlagenes Päckchen unter Dragans Arm. »In diesem Fall«, fuhr er fort, »wäre es vielleicht möglich, dass du trotzdem meinen Roman prüfst.«
Ivy starrte zurück, sah, dass er sich einen fussligen kleinen Schnurrbart wachsen ließ. Sie erinnerte sich an eine Lektion über das Feudalsystem, vielleicht in der dritten Klasse. Die Illustration zeigte den König an der Spitze, der die Adligen befehligte, und endete mit dem Bauern und der Unterschrift: Der Bauer kann niemanden treten außer seinem Hund.
»Gern«, sagte Ivy.
»Du wirst prüfen?«
»Schreib einfach deine Telefonnummer auf das Päckchen.«
Dragan schrieb seine Nummer darauf, setzte ein Ausrufezeichen dahinter. »Viel Glück bei allen deinen Bemühsamkeiten«, wünschte er. »In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«
Sie nahm das Päckchen. Wie vorher Bruce’ zitterten auch ihre Hände ein wenig.
Ivy ging nach Hause. Sie öffnete einen Ordner mit dem Titel Vermesserin Notizen und begann mit dem Versuch, die Einfälle, die ihr bis jetzt gekommen waren, in die Form einer Geschichte zu bringen. Eine Weile lief es gut; dann fiel ihr Dannys Angebot wieder ein, die Vermesserin zu finanzieren, damit sie im Verlaine’s aufhören konnte. Nun stand sie ohne beides da, Danny und der Job im Verlaine’s waren weg. Ihr Verstand war nutzlos. Es war nicht so, dass der Fluss austrocknete, eher, als würde er widerspenstig, als hätte Wasser sich in Holz verwandelt.
»Allmächtiger«, fluchte sie und barg den Kopf
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