German Angst
durchbohrten, jeden Zentimeter, überall. Die Angst wurde unerträglich. Wieder richtete sie sich auf, ein kleines Stück nur, und von ihrer eigenen Stimme überrumpelt brüllte sie aus Leibeskräften und hörte nicht mehr auf. Ein unverständlicher tobender Laut hallte durch den Raum, schrill und schrecklich und endlos.
Und als die Tür aufging, brüllte sie weiter, auch als der maskierte Mann vor ihr stand und sie angeekelt betrachtete. Sie brüllte ihm ins Gesicht und er hob die Hand und sie sah die kleine grüne Säge und sie brüllte diese Hand an, denn sie wollte leer sein, wenn sie starb, leer von jedem Laut und nur noch still und sanft. Sie brüllte seinen Blick an und seinen dünnen grauen Mund hinter der Maske, sie wollte leer sein, wenn er sie tötete, ausgehöhlt und erlöst. Und in ihr donnerndes Brüllen mischte sich ein kreischendes Lachen, jämmerlich trostlos. Und je länger sie schrie, während ihre Stimme sich überschlug, desto heiterer wurde ihr zumute und sie sah den grünen Fluss, an dessen Kiesufer sie irgendwann saßen und lachten und sich Sachen sagten wie noch nie, Chris und Lucy und sie, die Sonne schien und sie waren zusammen. Sie stieß ihre Namen aus, denn sie freute sich so, die beiden zu sehen, aber die Namen waren nicht zu verstehen in der Explosion ihrer Stimme.
Und dann verstummte sie vor Erschöpfung. Sie lehnte sich an die Holzwand und fing an zu weinen. Und mit dem Geschmack der Tränen auf den Lippen erwartete sie angstlos ihre Strafe.
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FUROR MON AMOUR
Il pleure dans mon cœur Comme il pleut sur la ville.
Paul Verlaine: »Ariettes oubliées«
1 16. August, 09.12 Uhr
A ls wäre die Stadt plötzlich erwacht, als würde die Trägheit ihrer Bewohner, ihr Dahingleiten in wohliger Erhabenheit innerhalb weniger Stunden umschlagen in babylonisches Grauen. Als wäre ein Engel herabgestiegen auf die klassizistischen Plätze und Boulevards, auf die Dächer der barocken Kirchen, Jugendstilhäuser und modernen Glas-Metall-und-Beton-Riesen und würde vom Monopteros-Tempel oder von der Spitze des Olympiaturms aus seine Stimme erschallen lassen, so dass jeder Gast in den schicken Cafés und den rustikalen Wirtshäusern zwischen Schwabing und Harlaching, Nymphenburg und Haidhausen panisch auf die Straße rannte, sich bekreuzigte und auf die Knie warf. Als würde wie bei der Beisetzung des Märchenkönigs vor langer Zeit plötzlich ein Blitz zur Erde fahren, gefolgt von einem Furcht erregenden Donner, und die Trauernden von den Beinen reißen: So geschockt, überdreht und wie von einer fremden Wut getrieben reagierten die Menschen auf die ersten Zeitungsartikel und Fernsehsendungen über die Entführung von Natalia Horn. Und als hätten sie literweise Zornwein getrunken, beschimpften sie einander und sich selbst und dann, nachdem sie heiser und selbstbewusst geworden waren, die Polizei, den Staat und die Jugend. Und es dauerte nicht einmal bis zum Abend dieses rasenden Montags, da stand für sie alle fest, wer schuld war an der Beschmutzung ihres Rufs, und sie forderten sofortige Bestrafung.
Als der SPD-Oberbürgermeister Ludwig Zehntner in einer Pressekonferenz sagte, er werde dem Druck reaktionärer Gewalttäter niemals nachgeben, lachten ihn die meisten Journalisten aus. Eine halbe Stunde vorher hatte Eberhard Fichtl, der Vorsitzende der CSU-Fraktion im Stadtrat, vor Reportern und Passanten erklärt, man könne nicht die Welt umarmen und dabei seine eigenen Leute vergessen, mit dem Gutmenschentum müsse jetzt Schluss sein. Die Entführung sei absolut abzulehnen, die Forderung der Kidnapper jedoch nicht von der Hand zu weisen. Viele Zuhörer applaudierten und Fichtl versprach, gemeinsam mit Zehntner eine Lösung zu finden, um so rasch wie möglich wieder Ruhe und Ordnung in der Stadt herzustellen. »München«, sagte Fichtl, »ist eine weltoffene, liberale Stadt und das soll auch so bleiben. Verbrecher kriegen von uns kein Bleiberecht, egal, wie alt sie sind und welche Hautfarbe sie haben. Wir distanzieren uns aber aufs Schärfste von dieser Aktion D, die außerhalb jeder Legalität steht, und wir verurteilen ihr Handeln. Menschenraub ist kein Mittel, um ein politisches Ziel zu erreichen. Wir lassen uns nicht erpressen. Ich hoffe sehr, dass Frau Horn unversehrt ist und es uns gelingt, die Entführer zur Aufgabe ihres absurden Vorhabens zu bewegen. Erst wenn Frau Horn wieder frei ist, werden wir uns über das weitere Schicksal von Lucy Arano und ihrem Vater Gedanken
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