German Angst
er hier machte. Mit großer Anstrengung richtete sie sich auf. Da war aber niemand in der Dunkelheit und doch sah sie ihn genau, er hatte das Sakko aufgeknöpft und sagte: Sie sind eine ausgezeichnete Frau, Sie sind eine ausgezeichnete Frau. Eine hübsche Bluse haben Sie unter dem Kittel an, ich mag weiße Blusen, sie sind fraulich, sie machen eine Frau fraulich, verstehen Sie das? Und sie hörte, wie er immer wieder sagte: Verstehen Sie das? Verstehen Sie das? Und dann sagte er: Überlegen Sie sich das noch mal!
Wieso kam ihr jetzt dieser Mann in den Sinn? Was hatte er mit all dem zu tun? Er war nur ein widerlicher Kunde, den ihr Helga vermittelt hatte. Helga, die sie vor acht Jahren in einer Kneipe kennen gelernt hatte. Sie hatten festgestellt, dass sie eine gemeinsame Liebe hatten: Elvis Presley. Helga besaß Originalschallplatten von früher, auf die sie unglaublich stolz war, und sie lud Natalia zum Kaffeetrinken ein, drehte die Musik laut auf und fing an zu tanzen. Helga war seither eine ihrer treuesten Kundinnen, fast so etwas wie eine Freundin. Als ich Chris kennen gelernt hab, hast du eigenartig reagiert, du mochtest ihn nicht. Ich hab gesehen, wie du ihn beobachtet hast, du mochtest ihn nicht, weil er schwarz ist und fünfzehn Jahre jünger als ich. Vor allem deswegen hast du versucht, ihn mir auszureden. Du warst immer freundlich, wie das deine Art ist, so bist auch zu deinen Kunden in der Bank, aber ich hab dich durchschaut, du wolltest uns auseinander bringen, du hast nie begriffen, was wir füreinander sind. Dass dies keine Affäre ist, dass wir nicht nur gern zusammen schlafen. Sondern dass wir beide eine Liebe sind, dass jeder für den anderen ein Glück ist, davon hast du leider keine Vorstellung. Einmal wollte ich deinen Rat, ich hab dir anvertraut, wie ich darunter leide, dass ich viel älter bin als er und er so gut aussieht und meine Eifersucht mich manchmal niederdrückt und ich alles hinschmeißen will und lieber allein bleibe. Da hast du nur gesagt, ich soils sein lassen, in zwei Monaten wär er sowieso weg, wenn er sich sattgevögelt hat. Das fand ich unerhört, und von da an hab ich dir nie wieder etwas erzählt von meiner Panik und dieser Sehnsucht, die ich sogar hab, wenn er da ist, wenn er neben mir ist, neben mir liegt, in mir ist. Wo bist du, Chris? Komm her zu mir! Siehst du mich nicht, hier bin ich, hier bin ich doch.
Einen Moment wartete sie, nach vorn gebeugt, mit gekrümmtem Rücken und schmerzgezeichnetem Gesicht, dann hatte sie keine Kraft mehr. Sie fiel zurück und schloss erschöpft die Augen. Nebenan war ein Klappern zu hören, ein kurzer Schrei, bis es wieder still war. Von draußen drang kein Pfeifen herein, kein Zirpen, kein Gebell oder Motorengeräusch. Vielleicht ist es Nacht, dachte Natalia, oder der Mond ist zurückgekehrt, entgegen allen astronomischen Gesetzmäßigkeiten hat er plötzlich seine Bahn geändert und verfinstert noch einmal die Sonne, ein kosmisches Wunder, ein überirdischer Wahnsinn.
Sie hatte während des Spektakels im Kofferraum gelegen und wollte jetzt nicht daran denken. Wie macht man das, wenn man nicht denken will, dachte sie, wie krieg ich die Stimmen aus dem Kopf? Ich will jetzt nicht denken, ich will jetzt nicht laut sein in mir. Das darfst nur du, nur du darfst mich von innen her bejubeln, nur du, nur du!
Da begriff sie, dass sie entführt worden war und sich nicht gewehrt hatte. Jetzt erst, viele Stunden später, wurde ihr bewusst, dass mehrere Männer in ihr Haus eingedrungen waren und sie geschlagen, gefesselt und verschleppt hatten. Und das Nichts, das sie umgab, war – daran zweifelte sie plötzlich keine Sekunde – nicht die abgestandene, trockene Luft in einem fensterlosen Raum, es war der Tod, der geduldig wartete, bis sie ihn beim Namen nannte. Ich werde sterben, dachte sie, ich bin aus der Welt gestürzt und es gibt kein Zurück. Da ist niemand, der mich hält, und ich beklage mich nicht. Ich hab dieses Leben gemocht, es war, wie es war, ich mache kein Aufhebens davon. Nimm dich nicht zu wichtig, jetzt, bloß weil du Angst hast und im Dunkeln liegst! Die eine Liebe war dir vergönnt, wie viele hast du erwartet? Natalia schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Ihr war schwindlig, sie schwitzte, der Schweiß rann ihr die Arme hinunter, ihr Herz schlug heftig und ihre gefesselten Hände, die sie auf dem Bauch gefaltet hatte, zitterten. Sie hatte das Gefühl, ihr Körper sei übersät von Nägeln, die ihre Haut
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