German Angst
der Menschen verursachte, wäre so schnell nicht zu heilen, davon war Funkel überzeugt. Welche Rolle er und das Dezernat dabei spielten, abgesehen von ihrer Aufgabe, Natalia Horn zu finden und zu befreien, das trieb den Kriminaloberrat um, seit er den Brief der Aktion D gelesen hatte. Unter den neunzig Mitarbeitern seines Dezernats gab es etliche, die Lucy Arano und ihren Vater eigenhändig zum Flughafen bringen würden, wenn sie damit die Ausweisung beschleunigen könnten. Doch hoffte er, die Kollegen würden seiner Bitte entsprechen und sich mit entsprechenden Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückhalten, solange der Fall nicht geklärt war. So sehr sich sein Umgang mit der Presse bewährt hatte, die Tatsache, dass die Polizei wie andere Institutionen nur einen Querschnitt der Gesellschaft repräsentierte, der aus klugen und weniger klugen, liberalen und weniger liberalen, freundlichen und unfreundlichen Personen bestand, werteten dennoch viele Journalisten bei jeder sich bietenden Gelegenheit als moralisches Dilemma und typisches Zeichen für reaktionäres Beamtentum.
»Die Frau Sorek ist nämlich schon da«, sagte Veronika Bautz, Funkels Sekretärin, »und zwei Herren aus Hamburg wollen Sie sprechen, die schauen halbwegs seriös aus, obwohl sie auch Reporter sind.«
Funkel nickte und Veronika schloss die Tür. Er hoffte inständig, es würde ihm gelingen, die Kontrolle über die Ereignisse zu behalten, die unvorhersehbar waren, die er aber spürte wie ein unterirdisches unaufhaltsames Grollen. Und er hoffte, stark genug zu sein, wenn das Beben ausbrach. Nur eine halbe Stunde später war er zum ersten Mal nicht stark genug.
Statt wie gewöhnlich um halb elf begann die Pressekonferenz kurz vor halb zehn. Der Raum war überfüllt von Journalisten und auf den Fluren drängten sich weitere Fotografen, Kameraleute und Hörfunkreporter, deren Gerätschaften den Weg versperrten. Am Hauseingang zum Dezernat 11 gab es keinen Pförtner und wenn die Tür angelehnt war, was häufig vorkam, da sich in dem Gebäude außerdem Firmenbüros befanden, konnte jeder ein und aus gehen. Zwar musste man, um zu den vier Kommissariaten zu gelangen, im zweiten Stock an einer versperrten Glastür warten, bis man eingelassen wurde, doch heute hatte es einfach keinen Sinn, die Tür jedes Mal wieder zu schließen, nachdem ein Journalist hereingekommen war. Also schoben sich die Neuankömmlinge durch die schmalen gewundenen Flure in Richtung Besprechungszimmer, das für diesen Anlass viel zu klein war. Vor der Wand gegenüber der Tür saßen vier Männer an einem Tisch, Schulter an Schulter, drei mit Sakkos und Krawatte, der vierte ohne Sakko, dafür mit einem Seidenhalstuch. Schon seit einer Minute nestelte Volker Thon an seinem Tuch, während neben ihm Karl Funkel die leere Pfeife in der Hand drehte und sich mehrmals hintereinander an der Augenklappe kratzte. Franz Obst, der Pressesprecher, hatte einen Stapel Zeitungen und einen Din-A-4-Block vor sich liegen, und Niklas Ronfeld, der rechts am Rand saß, hatte die Hände auf seinem Aktenordner gefaltet und blickte scheinbar ungerührt in die Menge.
Mit einem verlegenen Lächeln platzierte ein junger Mann ein Mikrofon auf dem Tisch – das elfte, wie Obst zählte – und schob dabei zwei andere ein Stück zur Seite.
»Aufpassen, ja!«, raunte ihm ein Kollege zu. Der junge Mann hob entschuldigend die Hand und kämpfte sich gebückt zu seinem Stuhl zurück, auf dem er seinen Rekorder abgestellt hatte. Dies war die erste Pressekonferenz, nachdem die Entführung von Natalia Horn bekannt geworden war. Von den drei kurzen Interviews abgesehen, die Funkel im Hof des Dezernats gegeben hatte, kommunizierte die Polizei seit dem Nachmittag des vergangenen Tages ausschließlich über Telefon mit den Medien. Sogar der »Vor Ort«- Chefreporterin Nicole Sorek, die wie Lucys Anwalt Sebastian Fischer eine Kopie des Schreibens der Aktion D erhalten hatte, verweigerte Funkel jede Auskunft. Wie er es erwartet hatte, hatte sie ihm in ihrer Abendsendung Mauertaktik und Verschleierung vorgeworfen. Jetzt saß die Siebenundzwanzigjährige mit den halblangen roten Haaren und dem ungeschminkten sommersprossigen Gesicht direkt vor ihm und die Kamera ihres Kollegen war genau auf sein Gesicht gerichtet.
Eigentlich hätte Funkel wetten können, dass sie die erste Frage stellte.
»Wie ist es möglich, dass eine Frau am helllichten Tag aus einem Wohngebiet entführt wird, ohne dass jemand was merkt? Oder haben
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