German Angst
stand. Er drehte sich um. Sein junger Kollege kratzte sich am Schnurrbart.
»Diese Aktion D scheint ziemlich gerissen zu sein«, meinte Florian Nolte.
7 15. August
A uf einmal war sie alt, auf einmal. Vielleicht weil sie die Trockenheit ihrer Haut spürte oder überall in ihrem Körper Schmerzen, dachte sie: Jetzt bin ich alt und es ist Zeit zu sterben. Auf einmal kam ihr das Leben wie eine große Belanglosigkeit vor und augenblicklich fragte sie sich, warum sie so alt werden musste, um dies zu bemerken. Sie lag auf dem Rücken, die Beine aneinandergedrückt, die Hände gefaltet auf dem Bauch, die Augen geschlossen, die Aura erloschen. Wann klappen sie den Deckel zu und streuen Erde darauf? Wenn sie die Augen aufschlug, saugten ihre Blicke Staub aus der Dunkelheit, Staub und Schmutz an den Rändern der Dunkelheit, die dieses Zimmer füllte. Und sie dringt in mich ein, dachte Natalia, und schwärzt mein Herz und ich werde nicht mehr lieben können. Und ohne zu lieben hatte sie noch keinen Tag verbracht. Oder doch? Wozu war das jetzt noch wichtig? Sie schrie nicht. Obwohl sie es hätte tun können, sie war nicht mehr geknebelt, sie hätte losbrüllen können wie ein Tier und dann wäre der Mann gekommen und hätte ihr einen Finger abgesägt und sie hätte noch lauter geschrien, dass man sie bis nach Helsinki hörte. Aber Angst hatte sie keine. Das kam ihr seltsam vor. Sie öffnete die Augen. Da oben waren Bretter, schmutzige Bretter, schwer auszumachen, raues Holz. Es roch nach Holz, wenn sie sich anstrengte und schnupperte, nach Holz und Erde, Baumrinde, Blumen. Vielleicht war sie auf dem Land, man hatte sie an einen Ort außerhalb der Stadt gebracht, in die Nähe eines Waldes möglicherweise, in eine Hütte, ein Versteck. Niemand wird mich finden und das ist auch ganz egal.
Wie ihr Körper im Kofferraum, als er während der schnellen Fahrt hin und her geschleudert und geschüttelt wurde, so flitzten jetzt die Worte in ihrem Kopf kreuz und quer durch die Stille und machten sie irr und klar zugleich. Ich kann dich sehen, sagte sie so leise wie möglich und war sich nicht sicher, ob die Worte außerhalb ihres Mundes zu hören waren, wahrscheinlich tummelten sie sich bloß auf der Zunge wie betrunkene Zwerge.
Plötzlich fühlte sie sich munter und sie dachte nicht mehr ans Sterben. Sie dachte an den Tag, an dem sie abgehauen war und ihre Familie in gemeiner Ratlosigkeit zurückgelassen hatte. Ihr Verlobter raste damals vor Zorn, aber sie konnte ihm nicht helfen. Ich hab nicht anders gekonnt, ich hätt dich getötet, wenn ich geblieben wär, und du warst niemals schuld daran, du warst niemals schuld, du hast alles richtig gemacht, du hast dich gesorgt um mich und meine Tochter, du warst freundlich zu meiner Mutter und sanft zu mir. Ich mochte dich, ich lag gern in deinen Armen, wenn ich auch manchmal ein wenig Mühe hatte mit deinem Geruch. Das ist nicht schlimm. Ich war deine Verlobte, ich war eine Verabredung eingegangen, und an die hielt ich mich, da war dein Geruch mit drin, mit abgegolten. Ich werf ihn dir nicht vor. Wenn ich geblieben wär, hätt ich dir einen noch größeren Schmerz zugefügt, und das durfte ich nicht, das stand nicht in unserer Verabredung, also lief ich weg. Du hast das nie verstanden und das kannst du auch gar nicht, denn ich versteh es selber nicht, ich weiß nur, dass ich so bin, das sind die unbekannten Kammern in mir, die kann man nicht betreten, nicht einmal ich kann es.
Natalia lauschte. Sprach da jemand? Hatte sie eine Stimme gehört? War das ihre Stimme? Sie musste vorsichtig sein, sie wollte jetzt nicht gestört werden. Das Bett, auf dem sie lag, war weich und die Schmerzen in ihrem Körper schienen im Gleichgewicht zu sein, sie spürte sie kaum. Und dass ihr schönes gelbes Kleid zerrissen und ihre Unterwäsche zu sehen war, störte sie nicht. Auf einmal empfand sie die Dunkelheit wie einen Mantel, der sie vor beleidigenden Blicken schützte.
Niemand hat mich gesehen, erinnerte sie sich und horchte und presste die Lippen aufeinander. Ich fuhr mit dem Taxi und die Taxifahrerin erzählte mir von zwei Kindern, Mädchen und Junge, die sie in der Nacht gefahren hatte und die von zu Hause ausgerissen waren und sie ahnte nicht, dass ich auch ausgerissen war. Das erste, was Hella dann zu mir sagte, war:
»Hab ich mir gleich gedacht.« So ist sie, sie war nie verheiratet, aber ich weiß genau, sie wär es gerne gewesen, ich kenne sie gut, auch wenn wir nur wenig Zeit füreinander
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