German Angst
vergangenen Tage hatte er überlegt, ob es Lucy Arano vielleicht ähnlich erging, vielleicht rührten ihre unberechenbare Wut und ihre maßlose Egozentrik von diesem Mangel her, den sie empfand, wenn sie an ihr Leben dachte. Vielleicht war Fremdheit eine genetische Wunde, ein Erbgut der Väter und Mütter, die aus Gründen, für die sie nicht verantwortlich waren, ihr Lebenszimmer verlassen und in ein Haus außerhalb ihrer bisherigen Vorstellung einziehen mussten. Die Umgebung beeinflusste die Neuankömmlinge dabei nur in geringem Maß; sie eigneten sich eine neue Sprache an, sie lernten neue Gebärden, Verhaltensweisen und Spiele, bald gehörten sie beinah dazu und wenn sie heirateten, eine Frau aus der Gegend, einen Mann aus demselben Ort, fragte niemand nach ihrer Herkunft, wenigstens nicht, solange sie sich unauffällig benahmen, sich nichts zu Schulden kommen ließen, was das übliche Maß überschritt, und ihre Meinung dem Durchschnitt anpassten. Das, dachte Süden, heißt dann Integration. Und er, Tabor Süden, dreiundvierzig, Kriminalhauptkommissar, ledig, war nie ein integrierter Mensch gewesen. Weswegen Volker Thon behauptete, Süden sei für den Polizeidienst, der auf Teamgeist basiere, vollkommen ungeeignet. Trotzdem mochte er seine Arbeit noch immer, wenn auch weniger als früher, zunehmend weniger, wenn er ehrlich war, und jetzt, heute, hier an diesem Stehtisch in einem Café in der Buttermelcherstraße, zweifelte er wie nie zuvor am Sinn seiner Tätigkeit. Er kam sich vor wie ein Verwalter von Verzweiflung, er konnte nichts anderes tun als abwarten, zuhören, zureden, beschwichtigen. Auch sich selbst, besonders sich selbst. Was er mit Thon angestellt hatte, war lächerlich gewesen, das wusste er, deswegen hatte er sich entschuldigt, und hinterher, auf dem Weg zum Taxi, konnte er nicht begreifen, was ihn veranlasst hatte, sich so zu echauffieren. Thons Reaktion auf das Verhalten Ronfelds kam ihm im Nachhinein geradezu normal vor. Was hätte sein Chef sonst sagen sollen, es war nicht seine Art, einen Staatsanwalt abzukanzeln oder vor Zeugen zu kritisieren. Etwas anderes hatte Süden erregt, etwas, das mit der Entführung nichts zu tun hatte, ausschließlich mit dem Mädchen, mit Lucy, die er kaum kannte und die wenig redete, wenn er ihr gegenübersaß. In ihrer Nähe fühlte er sich zurückversetzt in eine ferne Zeit, in einen Zustand, der ihn, anders als Lucy, nicht sichtbar aggressiv gemacht hatte, sondern über alle Maßen überheblich. Je weniger er sprach und seine Freunde, Lehrer und Eltern damit verunsicherte, desto überzeugter war er von seiner Unbesiegbarkeit gewesen. Und all sein steinkalter Stolz hatte ihn wie ein Brand geschmerzt, der in seiner Seele loderte, den er zugleich behütete und verfluchte und so verzweifelt bändigen wollte, hätte er bloß eine Idee gehabt, wie man es schaffte, sich als Fremder zu mögen. Um solche Tumulte zu überstehen, musste man stark sein, und das war er gewesen, er war es gewesen ohne zu überlegen, woher er die Kraft nahm. Unbewusst tat er das Richtige, so empfand er es bis heute, und das war der Grund, weshalb er Lucy zu verstehen glaubte und gleichzeitig mit niemandem darüber sprechen konnte.
»Lucy trägt den Brand nach außen«, sagte er und jemand erwiderte: »Was?« Süden hob den Kopf, und da stand Florian Nolte vor ihm, der einen abgehetzten Eindruck machte.
»Was hab ich gesagt?«, fragte Süden.
»Ich habs nicht verstanden.«
Süden bezahlte den Tee und sie gingen zum Haus Nummer 14, in dem Ines Groß wohnte.
Sie bot ihnen Wasser und Kaffee an und sie sahen ihr zu, wie sie flink und anscheinend mühelos durch die Wohnung ging. Ihr Hund folgte ihr überall hin. Als Nolte ihn streicheln wollte, knurrte er leise und gelangweilt, und Ines sagte: »Der tut nichts.«
»Wie heißt er denn?«, fragte Süden. Er hatte ein Glas Wasser und eine Tasse schwarzen Kaffee vor sich stehen, Nolte wollte nichts trinken.
»Dertutnix«, sagte Ines.
»Ja«, sagte Nolte, »ich habs verstanden, aber wie heißt er?«
»Dertutnix«, wiederholte Ines. Sie hatte eine rote weite Trainingshose an und ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift: WIR KÖNNEN AUCH ANDERS.
»Christoph Arano sagt, Sie sind Natalias beste Freundin«, sagte Süden. Nolte stellte den kleinen Rekorder auf den Tisch und schaltete ihn ein. Sie saßen an einem schweren Holztisch in einem Zimmer, das Wohn und Schlafraum in einem war. Das Bett stand am anderen Ende hinter einer Art Balustrade aus
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