German Angst
zu schlagen, was er sich oft gewünscht, aber dann nie getan hatte. Vielleicht, dachte er jetzt und verzog spöttisch den Mund, hat Helga Ries ebenfalls einen Sohn und traktiert ihn mit Gummihandschuhen, Lederlappen und Schwämmen, und der Junge wehrt sich nicht und sie quält ihn jeden freien Tag und er ist zu schwach und zu feige und sie weiß das und nutzt es aus. Immer hatte er sich vorgenommen Nein zu sagen, aber es nicht geschafft, und sie trug ihm stets neue schwachsinnige Arbeiten auf und er wollte raus, mit seinen Kumpels zum Fußball, die Mädchen ärgern, Plattenläden durchforsten. Er wollte weg aus diesem Scheiß von Sauberkeit und traute sich nicht, traute sich einfach nicht und hasste sich dafür, hasste sich, wie man nur sich selber hassen kann und niemand sonst, nicht mal seine Mutter, nicht mal diese Frau…
»Das Beste ist, Sie kommen einfach mit, und dann ist Schluss mit Ihrem Getue!« Nolte nickte ihr angewidert zu. Sie erschrak, weil er sie so anblaffte, und blickte zwischen den beiden Männern hin und her. Noch nie hatte sie Polizisten in der Wohnung gehabt, sie war verlegen und gereizt, und auch wenn sie mithelfen wollte, Natalia aus den Fängen dieser furchtbaren Gangster zu befreien, fragte sie sich, wieso man sie wie eine Mitwisserin behandelte, wie jemanden, der Mitschuld an der Entführung hatte. Wann hatte sie Natalia überhaupt zum letzten Mal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern, das hatte sie dem langhaarigen Kommissar mit der Narbe am Hals gesagt. Aber er schien ihr nicht zu glauben. Warum denn nicht?
»Wissen Sie«, sagte sie, nachdem sie sich von Noltes Bemerkung erholt hatte, »wir haben uns ein wenig aus den Augen verloren, sie hat viel zu tun, ich hab viel zu tun, unser Verhältnis ist nicht mehr so wie früher, ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, ob sie in der letzten Zeit Probleme hatte oder irgendwelche dubiosen Leute getroffen hat.«
»Sie haben mit ihr vor drei Wochen telefoniert«, sagte Süden.
»Das kann sein.«
»Das ist so.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Warum verraten Sie uns nicht den Namen des Mannes, den Sie Frau Horn als neuen Kunden vermittelt haben?« Süden hielt sie für eingeschüchtert, vermutlich weniger von einem Dritten, als von ihnen, den beiden Kommissaren. Aber sie war auch unsicher und hatte offenbar noch nicht entschieden, was genau sie sagen sollte, sie versuchte höflich und entgegenkommend zu sein, allerdings verrieten ihre Gesten und Blicke, wie nervös sie war.
»Trinken Sie doch einen Schluck Kaffee!«, sagte sie und griff zur Kanne.
Auf einem Bücherregal, auf dem Ratgeber zum Steuerrecht, Broschüren verschiedener Banken, drei Lexika und alte Bücher in brüchigen dunklen Leineneinbänden standen, entdeckte Süden ein gerahmtes Foto: ein Mann und eine Frau an einem Palmenstrand. Die Gesichter waren unter den Strohhüten nicht zu erkennen.
»Sind Sie das?«, fragte er.
»Ja. Und mein Exmann. Wir waren auf den Malediven, danach haben wir uns scheiden lassen.«
Diese Bemerkung gefiel Süden. Er hatte eine eigentümliche Zuneigung zu Paaren, die gemeinsam abenteuerliche Urlaube buchten, um dann nach drei Tagen festzustellen, dass sie einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, in einer fremden Gegend, Tausende von Kilometern von der eigenen Wohnung entfernt, und ein Entrinnen gab es nicht, mehrere Wochen lang. In seinen Augen zählten Menschen, denen plötzlich das Alleinsein fehlte, zu den Unverlorenen, sie hatten, anders als die Tümmler und Springer, eine Ahnung davon, worauf ihr Dasein letztendlich hinauslief.
»Haben Sie einen Freund?«, fragte Süden.
»Keinen festen.«
»Wir nehmen die Frau mit«, sagte Nolte und stand auf. Diese Wohnung, dieser Geruch, diese Frau mit den gefärbten Haaren und dem billigen Schmuck an den Händen, dieser Kollege, von dem man nie wusste, was er gerade dachte und ausheckte und der die ganze Zeit so tat, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, das alles würgte und marterte ihn. Er wollte raus, er brauchte Luft, er musste irgendwas tun. Außerdem putschte ihn die Frage nach dem neuesten Stand der Ermittlungen auf, er brannte darauf zu erfahren, wie der Neger reagierte und ob er mit seiner kriminellen Göre schon auf seinen Abflug wartete, und zwar für immer.
»Ich möchte mit Frau Ries allein sprechen«, sagte Süden.
»Das ist gegen die Vorschrift«, sagte Nolte kühl.
»Der Rekorder läuft weiter.«
»Du bist der Chef.« Ohne sich zu verabschieden verließ Nolte die
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