German Angst
Mitgefühl ist, für die Opfer natürlich, aber auch für die Täter. Wenn wir uns mit der psychischen und geistigen Struktur eines Verbrechers beschäftigen, dann ist das kein Gnadenakt, sondern ein Auftrag, den wir im Namen unseres Sozialstaats erfüllen. Wir sollen nämlich etwas lernen. Und wir lernen nichts, wenn wir die Täter so schnell wie möglich wegsperren. Oder wegschicken. Wir werden nie etwas begreifen, wenn wir uns davor drücken, Verbrecher ernst zu nehmen. Das hat nichts mit Täterschutz vor Opferschutz zu tun. Was soll das überhaupt heißen: Täterschutz? Haben wir jemals einen Täter geschützt? Das ist bloß Gerede von Leuten, die Lärm machen. Was Sie vorhaben, Herr Ronfeld, widerspricht der elementaren Grundlage der Kriminalpolitik und dem Grundsatz der Humanität, und ich verrat Ihnen etwas. Ich habe eine Menge Dinge vergessen nach meiner Ausbildung und ich bin, wie Sie wissen, kein Polizist, der Spielregeln besonders mag. Eigentlich hasse ich Spielregeln, wenn ich spiele, dann will ich richtig spielen, dann will ich mich austoben. Aber was ich verstanden habe und was ich nicht vergessen werde, solang ich Polizist bin, und wenn ich keiner mehr bin, werde ich immer noch daran denken: Ohne Mitgefühl und Mitverantwortung funktioniert das Strafgesetz nicht. Wenn wir das Ziel aufgeben, einen Täter zurückzugewinnen, wenn wir ihm die soziale Hilfe verweigern, die er braucht, um wieder in die Gesellschaft zurückzufinden, dann haben wir verloren, dann sind wir bloß Vollzugsbeamte, die Schlösser auf und zusperren und in Frieden ihr Butterbrot essen wollen. Und noch etwas, Herr Ronfeld: Das Gesetzlichkeitsprinzip besteht unter anderem aus dem Rückwirkungsverbot. Lucy Arano hat keine achtundsechzig Straftaten begangen, sie hat zwei begangen und es wird keinen Richter geben, der sie deshalb ausweisen wird.«
Dann schwieg Süden. Thon musste zugeben, dass er ihm zustimmte, was ihm schwer fiel. Und Funkel fühlte sich noch mehr überrumpelt und hilfloser als vorher. Weber klopfte mit dem Kugelschreiber auf seinen Daumennagel. Hauser hantierte mit der Brille und tätschelte seinen linken Arm. Ohne sich zu Süden umzudrehen, sagte Ronfeld:
»Ich stimme mit allem überein, was Sie gesagt haben, nur mit dem Schluss nicht: Es werde keinen Richter geben, der Lucy Arano ausweist, weil sie, wie Sie behaupten, nur zwei Straftaten begangen hat. Es wird aber einen Richter geben, das schwöre ich Ihnen, der wird sie ausweisen, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung mehr hat und vorbestraft ist. Und jetzt schlage ich vor, Sie beginnen mit Ihrem Bericht, Herr Funkel.«
»Wir machen eine kurze Pause«, sagte Funkel und verließ ohne weitere Erklärung den Raum.
6 15. August, 23.59 Uhr
I n der Sanftmut der Nacht hab ich nichts verloren, ich will hier weggehen, ich steh jetzt auf und verschwinde. Und dann tat sie es und es war einfach. Wie ein Mädchen sprang sie aus dem Bett, lief zum Fenster und riss es weit auf. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber man kann sie hinter den Hügeln ahnen, über den Wipfeln der dunklen Tannen färbt sich der frische Himmel gelb, ein ungewöhnliches stolzes Gelb, und sie kann es riechen, sein Duft reicht bis hierher, bis zu ihrem Fenster, und sie schnuppert und die Luft ist warm, und jetzt weiß sie, wonach dieses Gelb so köstlich riecht, nach Brot. Dieser Morgen schmeckt nach Brot, und als sie erneut zum Horizont blickt, sind die Tannen verschwunden und eine Ebene breitet sich aus, voller Birken, grasbewachsen, kurz geschnittenes, glänzend grünes Gras. Sie zögert nicht länger, klettert auf das Fensterbrett, sieht sich nicht mehr um und springt hinunter. Und landet wie auf Moos. An ihren Füßen, sieht sie jetzt, trägt sie weiße Sandelen, keine Socken, ihr Rock ist blau mit gelben Punkten wie winzige Sonnen und ihre Bluse ist weiß und eng, sie spürt sie am Körper, das Reiben des Stoffs auf der Haut verursacht ein Geräusch, das ihr ein wenig unangenehm ist. Doch sie kümmert sich nicht darum, sie rennt los, durch das niedrige Gras, das ihre Zehen kitzelt. Das sind fröhliche Berührungen, denkt sie, sie schaut nach unten und bemerkt, dass ihre Zehennägel rot lackiert sind, das hat sie vergessen gehabt und sie freut sich darüber. Das Laufen ist ein einziger Übermut, rechts und links die Birken stehen da wie ein Spalier, das sie beschützt vor irgendetwas, das sie vergessen hat. Überhaupt erinnert sie sich, während sie erleichtert leicht vorankommt, an nichts,
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