German Angst
sie weiß nicht mehr, woher sie kommt, sie hat sogar das Zimmer vergessen, in dem sie gerade noch auf dem Bett lag, und als sie sich umsieht, ist da kein Haus, nur Weite und ein unberührter Himmel. Wie lange sie schon läuft, kann sie nicht sagen, aber auf einmal geht ihr die Luft aus. Es ist, als würde sie von einer Sekunde zur andern ersticken. Sie röchelt und keucht und reißt den Mund auf, ihr Herz schlägt heftig, sie kann es hören, es schlägt in ihrem Kopf, in ihrem Mund. Sie ist stehen geblieben, sie legt den Kopf in den Nacken, der Himmel ist schwarz und ganz nah und sie friert. Sie hat keinen Rock mehr an, keine Sandalen, nur die Bluse, sonst nichts, aber die Bluse gehört ihr nicht, so eine hat sie nie besessen, es ist eine ekelhafte braune Bluse wie von einer alten Frau. Es riecht auch nicht mehr nach Brot, sondern nach Moder und schmutziger Wäsche, und sie kriegt immer noch keine Luft und keucht und zappelt mit den Armen und zappelt mit den Beinen und hat Angst. Sie will sich festhalten und greift ins Leere. Und dann wachte sie auf.
Und als Erstes sah sie ein schwarzes Gesicht mit zwei ausgeschnittenen Augen, das Gesicht, das sie kannte, das Gesicht aus übel riechender Wolle. Es war ganz nah vor ihrem Gesicht, vor ihrer Nase, so dass sie den fauligen Geruch einatmen musste. In ihrem Mund steckte abermals ein Taschentuch als Knebel, die Lippen verschloss ein Klebeband, das sich über ihre Wangen spannte. Wieder atmete sie panisch durch die Nase. Das schwarze Gesicht entfernte sich ein wenig und sie war dankbar dafür.
»Ich werde dir aus der Bibel vorlesen, dann wirst du dich beruhigen«, sagte der Mann. Er saß auf einem Stuhl, neben sich hatte er einen Hocker gestellt, auf dem eine Kerze brannte. In der Hand hielt er ein schwarzes Buch.
Keine grüne Handsäge. Vor der er sie verschont hatte.
»Ich wollte dich töten«, hatte er gesagt, als sie so schrie und nicht mehr aufhören konnte zu schreien. »Du bist ein Geschwür, du musst weg vom Menschenbaum. Aber vielleicht bist du noch zu retten, ich will Nachsicht mit dir haben, denn ich weiß, was Gnade heißt.«
Vor Erleichterung musste sie weinen und er wischte ihr das Gesicht ab und seine Hände rochen nach Tabak und Seife.
»Hör zu!«, sagte er. »Meinen Kindern in der Schule habe ich jeden Morgen vorgelesen und sie sind alle gute Menschen geworden. Falte deine Hände!«
Ihre Hände waren über Kreuz zusammengebunden, sie konnte sie nicht falten. Der Mann sah hin und dann in ihr Gesicht.
»Entschuldige, das hatte ich vergessen.« Er senkte den Kopf, hob das Buch ins Licht der Kerze und begann mit brüchiger Stimme zu lesen.
»Achte auf meine Gebote, damit du am Leben bleibst, hüte meine Lehre wie deinen Augapfel. Binde sie dir an die Finger, schreib sie auf die Tafel deines Herzens. Sag zur Weisheit: Du bist meine Schwester, und nenne die Klugheit deine Freundin. Sie bewahrt dich vor der Frau eines anderen, vor der Fremden, die verführerisch redet. Vom Fenster meines Hauses, durch das Gitter, habe ich ausgeschaut, da sah ich bei den Unerfahrenen, da bemerkte ich bei den Burschen einen jungen Mann ohne Verstand: Er ging über die Straße, bog um die Ecke und nahm den Weg zu ihrem Haus, als der Tag sich neigte, in der Abenddämmerung, um die Zeit, da es dunkel wird und die Nacht kommt. Da!«
Sie erschrak, zuckte mit den Beinen und drehte ihm das Gesicht zu. Er wartete einen Moment, dann las er weiter, lauter und schneidender.
»Eine Frau kommt auf ihn zu, im Kleid der Dirnen, mit listiger Absicht…«
7 16. August, 20.28 Uhr
I n seinem Büro zündete sich Karl Funkel die Pfeife an, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Vor dem Hauptbahnhof warteten Passanten an der roten Ampel, Reisende eilten mit Koffern in die Halle zu den Gleisen, Taxifahrer lehnten an ihren Fahrzeugen und unterhielten sich. Zwei Straßenbahnen fuhren im selben Moment in verschiedene Richtungen davon, drei jugendliche Junkies hockten auf einer Steinmauer und rauchten. Die Abendsonne überflutete den Vorplatz, im satten orangenen Westlicht blickte Funkel wie auf ein choreografiertes Schauspiel, das in wenigen Stunden ein gutes Ende nehmen und morgen mit unversehrten Darstellern und polierten Requisiten von neuem beginnen würde. Für einige Minuten schämte Funkel sich nicht, einer grandiosen Lächerlichkeit, wie er es nannte, nachzugeben und die Zeit verstreichen zu lassen, obwohl er eine der wichtigsten Besprechungen der letzten Jahre fluchtartig
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