German Angst
einem die Zehennägel auf, so was muss man erst mal verkraften. Sie waren nett, alles in Ordnung, wir haben uns nett unterhalten, kein Problem. Ich glaub nicht, dass sie hergezogen sind.«
Auf der Reichenbachbrücke bemerkte Süden, wie aus den Isarauen Rauchschwaden in den dunkelnden Himmel stiegen, unsichtbar brannten die Grillfeuer entlang des Flusses in Richtung Tierpark und waren bis in die Straßenbahn hinein zu riechen.
»Die haben das ja nie gelernt, mit Fremden umzugehen«, sagte der Mann in der Strickjacke, »und dabei war das Land voller Asiaten. Die haben die aber nicht wahrgenommen und als die Mauer weg war, haben sie sie so schnell wie möglich weggeschickt, raus aus dem Land. Als die den Afrikaner totgetreten haben, das war für die ein patriotischer Vorgang, lauter Patrioten da, die töten noch für ihre Heimat.« Er ruckte hin und her und hielt sich dann an der Lehne des Vordersitzes fest.
»Dass dort drüben so was passiert, hätt man sich vorstellen können, aber hier. Was sind das für Irre, die so was tun? Kidnappen eine Frau, die niemand was getan hat. Sie hat einen Schwarzen zum Freund, na und? Mein ehemaliger Kollege ist mit einer Thailänderin verheiratet, na und? Ist das verboten? Eine Entführung, das ist doch krank…«
»Entschuldigung«, sagte Süden.
»Bittschön.« Der Mann rückte zur Seite und Süden zwängte sich an ihm vorbei.
»Wiedersehen«, sagte er.
»Wiederschaun.«
Am Mariahilfplatz stieg er aus, wartete, bis die Tram abgefahren war, und überquerte die Straße. Der weite Platz vor der Kirche war verlassen. Wenn die Dult stattfand, drängten sich hier Tausende von Menschen zwischen den Buden, die überquollen von Kunstkitsch und Kitschkunst, Porzellan, Kleidungsstücken und Kleinzeug aller Art. Sicher gibts auch gebrauchte Schreibmaschinen, dachte Süden, als er sich dem Jugendgefängnis unterhalb des Nockherbergs näherte.
Vor dem gelben Gebäude stand ein Notarztwagen, in dem Licht brannte. Süden klingelte an der Pforte. Nach einer Weile hörte er in der Sprechanlage eine Stimme.
»Tabor Süden«, sagte er. Bald darauf öffnete Dr. Elisabeth Kurtz, die Psychologin.
»Guten Abend.«
»Hallo«, sagte er, »ist was passiert?« Er meinte den Sanka.
»Das kann man wohl sagen.«
In einem Raum ohne Fenster lag eine Frau auf einem schmalen Bett und wurde von zwei Sanitätern versorgt. Anscheinend hatte sie Verletzungen im Gesicht, ihre Nase war bandagiert und auf ihrer Stirn prangte ein breites Pflaster. Ihr Mund sah irgendwie schief aus. Süden brauchte einige Zeit, bis er die Frau erkannte. Es war Nicole Sorek, die Chefreporterin von »Vor Ort«. Trotz des Handtuchs, das man ihr auf den Oberkörper gelegt hatte, bemerkte Süden die Blutflecke auf ihrer Bluse, und auch ihre Bluejeans waren an mehreren Stellen dunkel verfärbt.
Elisabeth Kurtz stellte den Kommissar vor und Nicole lächelte gequält.
»Es ist nicht so schlimm, wies aussieht«, sagte sie fast ohne den Mund zu bewegen. »Ich hatte einen Schock. Sie… sie war so schnell, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Niemand hat so schnell reagiert. Und… und sie hat eine Kraft…« Nicole Sorek schloss kurz die Augen.
»Ich hab geglaubt, sie bringt mich um.«
»Wer?«, fragte Süden. Die Psychologin forderte ihn auf, mit in ihr Büro zu kommen.
Dort goss sie ihm und sich einen Whisky ein und reichte ihm das Glas.
»Lucy hat sie angegriffen, wie eine Wildkatze. Plötzlich sprang sie auf und hat sich geradezu in die Frau verbissen.«
»Sie haben das Interview erlaubt?«
»Das war kein Interview. Keine Kamera, kein Tonband. Frau Sorek wollte nur mit ihr sprechen, sie wollte sich ein Bild machen, wie sie sagte. Natürlich war die Bedingung, dass ich dabei bin und dass nichts von dem veröffentlicht wird, was sie reden. Lucy war einverstanden. Und plötzlich, nach nicht mal zwanzig Minuten…« Sie trank, rieb sich die Augen und zündete sich eine Zigarette an.
»Jetzt ist sie in Einzelhaft. Und redet nicht mehr. Keinen Ton. Was sollen wir jetzt tun? Ich hab Frau Sorek gebeten, nichts davon in ihrem nächsten Bericht zu erwähnen. Sie hat gesagt, das kann sie nicht, sie würde nichts über das Gespräch mitteilen, aber den Angriff könne sie auf keinen Fall vertuschen.«
»Sie haben einen Fehler gemacht, Frau Doktor«, sagte Süden. Der Whisky stieg ihm sofort in den Kopf, schlagartig fühlte er sich angetrunken.
»Ja«, sagte sie.
»Ich will mit ihr sprechen.«
»Das geht nicht, sie ist in
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