German Angst
konnte, tschechisch vielleicht, auf jeden Fall osteuropäisch. Seit mindestens zehn Minuten führte er sie nun schon umher. Er hatte sich bei ihr eingehängt und sie vertraute seinen Schritten. Er redete vom Wetter und erzählte, dass er gern in der Isar schwamm, obwohl der Fluss angeblich von Bakterien verseucht war. »Ist mir egal«, sagte er, »wenn ich schwimme, ich bin leicht wie Fisch.« Sie spürte sein Gesicht an ihrer Wange und hörte, wie er schnupperte. In der Nacht hatte sie den anderen Bewacher gebeten, auf die Toilette gehen und sich ein wenig waschen zu dürfen, und er hatte ihr die Augen verbunden und sie tatsächlich ins Haus geführt. Sie stiegen dann eine Treppe hinauf, sie spürte Stein unter ihren nackten Füßen, und die ganze Zeit hatte der Mann seine Hand auf ihrem Hintern. Während sie Stufe um Stufe hinaufging, zaghaft, unsicher, verkrampft vom langen Liegen, klebte diese feuchte Hand an ihr, sie fühlte die Feuchtigkeit durch das Kleid und den Slip. Im Bad schloss er die Tür, aber sie begriff sofort, dass er dageblieben war und ihr zusah. Wegen des Taschentuchs im Mund und des Klebebands konnte sie keinen Laut von sich geben. Doch auch wenn sie hätte sprechen können, was hätte es genützt? Also setzte sie sich auf die Toilette, tastete sich danach zum Waschbecken und rieb ihr Gesicht mit kaltem Wasser ab. Angestrengt versuchte sie festzustellen, wo sich der Mann befand, was er vorhatte, ob er sich bewegte. Er schien still an der Tür zu stehen. Im Bad roch es frisch, als wäre erst vor kurzem gründlich sauber gemacht worden, sie stellte sich weiße Kacheln und eine glänzend weiße Wanne vor, blaue Handtücher an Chromstangen und einen Jugendstilspiegel über dem Waschbecken. Außerdem hatte sie das Gefühl, der Raum habe ein Fenster, sie spürte einen sanften Luftzug und hörte die Grillen zirpen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht, einmal in einer Wohnung zu leben, deren Badezimmer ein Fenster hatte. Obwohl sie sich in dem Haus, in dem sie seit mehr als zehn Jahren lebte und arbeitete, wohl fühlte, empfand sie ihr eher bescheidenes fensterloses Badezimmer nach wie vor als eine Kränkung. Vielleicht hätte sie auf eine Abstellkammer oder einen größeren Flur verzichten sollen und sich bei der Auswahl für ein angemessenes Bad entscheiden sollen. Sie war so in Gedanken und für einige Minuten befreit von der Angst, die sie quälte wie ein Geschwür, dass sie im ersten Moment nicht merkte, wie der Mann wieder seine Hand auf ihren Hintern legte und ihr ins Ohr flüsterte, sie müsse jetzt zurück in ihr Gefängnis. Sie erschrak und stieß einen gurgelnden Schrei aus und beim Hinuntergehen wankte sie und umklammerte, immer noch schnaufend und voll der alten Angst, das eiserne Geländer.
»Riecht gut«, sagte nun der Mann, der sie durch den Schuppen führte. »Keine Angst, dir passiert nichts, du weißt, warum du hier bist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Macht nix«, sagte der Mann, »besser manchmal nix wissen. Dir passiert nix«, sagte er wieder, »du wirst leben und alles vergessen. Schade, was mit deinen Haaren passiert ist.«
Das hatte sie fast vergessen. Sie hatten sie geschoren, nachdem sie in ihr Haus eingedrungen waren. Wie kurz hatten sie ihr die Haare abgeschnitten? Sie erinnerte sich nicht mehr. Einer der Männer hatte eine Gartenschere gehabt. Und der andere eine Säge, der, der ihr aus der Bibel vorlas. Und dieser hier, der sie herumführte und mit ihr redete, als säßen sie im Gasthaus und verplauderten die Zeit? Was würde er ihr antun? Was war das für ein Akzent?
»Jetzt wieder hinlegen«, sagte er und sie zuckte zusammen.
»Bald bist du hier raus und alles ist gut wie vorher. Haare wachsen wieder, kein Problem, Geduld ist halbes Leben.«
Er strich ihr über den Kopf und seine Berührung war wie ein Stromschlag. Von einer Sekunde zur anderen begann es erneut zwischen ihren Schläfen zu pochen, so stark, dass ihr Kopf hin und her zuckte. Sie legte sich hin, zog die Beine an und stellte sich Chris vor, Chris, wie er schaumüberdeckt in der Badewanne sitzt und sich einen Bart aus dickem weißem Schaum ins schwarze Gesicht klebt, und sie sagt zu ihm, du siehst aus wie ein Nikolaus, und er sagt, früher hab ich mich für Lucy verkleidet, aber sie hat nie daran geglaubt. Sie hat nie an was geglaubt, dachte Natalia Horn jetzt. Und als sie die beiden, Chris und Lucy, um sich versammelt hatte in ihrer Vorstellung, atmete sie ruhiger und sonnte sich kurz im
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