German Angst
auf die Nerven. Er tat ihr Leid. Aber was konnte sie tun, damit es ihm besser ging? Vielleicht war es sinnlos, hier zu sein. Auch sie hatte sich überreden lassen, genauso wie Melanie, zu kommen und Arano beizustehen. Das war an sich in Ordnung, trotzdem kam sie sich benutzt vor. Was sollten sie schon reden die ganze Zeit? Wie hatte sich dieser Polizist das gedacht? Dass sie Monopoly spielten? Oder Mensch-ärgere-dich-nicht? Neben dem Bett lag eine Spieleschachtel, wahrscheinlich für Pensionsgäste, die nach München kamen und am ersten Tag feststellten, dass sie in der Hauptstadt der Langeweile gelandet waren, dachte Ira. Wenigstens ist der Blick auf den Friedhof angemessen. Sie hasste diese Stadt. Wieso war sie nicht längst weggezogen? Nach Mallorca zum Beispiel, da wohnten jetzt alle, die die Schnauze voll hatten von diesem Wetter hier und diesen griesgrämigen Leuten. Alles lächerlich!, dachte sie, stellte die Teller aufeinander und sah noch einmal zu Arano. Er hatte sich umgedreht, stand jetzt mit dem Rücken zur Tür, dem gegenüberliegenden Fenster zugewandt.
Zwischendurch wurde Ira bewusst, dass sie an alles Mögliche dachte, um beim Gedanken an die Entführung ihrer Tochter nicht verrückt zu werden. Dann trickste sie sich selbst aus, indem sie die Gabel in den Käse piekste und an das fade Essen dachte, das sie wahrscheinlich in der Gaststube servierten.
»Ich trag das Zeug wieder runter, wenn du nichts willst.« Arano nickte.
Sie war sich nicht sicher, ob er ihr zugehört hatte. Stöhnend erhob sie sich, streckte den Rücken und nahm das Tablett in beide Hände. Wortlos öffnete Arano die Tür und stellte sich daneben.
»Danke.«
Als Ira das Zimmer verlassen hatte, schloss er die Tür, setzte sich auf den Boden, der mit einem braunen Teppich ausgelegt war, und lehnte sich an die Wand. Seit der vergangenen Nacht, seit er seine Tochter im Fernsehen gesehen hatte, wie sie auf den Tisch sprang und die Fäuste hob, jagten Bilder durch seinen Kopf, die er jahrelang nicht mehr gesehen hatte, von denen er verschont geblieben war trotz der tausend Fragen, die ihm Lucy immer wieder gestellt hatte. Obwohl er ihr manchmal von früher erzählte, brauchte er keine Angst zu haben, dass die Geschichten schreckliche Gesichte hervorriefen; sie schienen für alle Zeiten im dunkelsten Verlies seiner Erinnerung verschwunden zu sein. Davon war er bis vor wenigen Stunden überzeugt gewesen. Und nun breitete sich das alte Inferno in ihm aus, er wollte es eindämmen, er wollte es niederschweigen, niederdenken. Doch es brannte von allen Seiten und er konnte niemanden um Hilfe bitten. Niemand war da, der verstanden hätte, was mit ihm passierte. Er war allein. Über ihm ein weißer roher Himmel, eine Wand, die näher kam, und in ihm Schreie. Schreie aus aufgerissenen Mündern, er hörte sie wie damals, und mit den Schreien schoss Blut aus den Mündern, schoss aus den Augen, aus der Haut all dieser Körper, die um ihn waren und jetzt in ihm. Du entkommst uns nicht!, hörte er. Du bist einer von uns, wir sind alle verdammt, wir sind das Vieh, das man schlachtet, damit unsere Feinde nicht hungern müssen. Und er riss den Mund auf, schluckte jedoch in letzter Sekunde den Schrei wieder hinunter, er hätte das Haus gesprengt. Als Ira das Zimmer betrat, lag Arano zur Seite gedreht auf dem Boden und zitterte am ganzen Körper.
Gehen war wundervoll. Auch wenn sie nichts sah, weil der Mann ihr mit einem Geschirrtuch die Augen verbunden hatte, so glaubte sie dennoch, das Holz zu sehen, das sie roch, und die Blumen und die Sonne auf ihrem Gesicht. Vielleicht war da gar keine Sonne und sie bildete sich alles nur ein, aber das machte nichts. Beinah hätte sie sich vor Dankbarkeit an den Mann geschmiegt, der sie führte, hin und her führte in dem kleinen Raum, der offensichtlich ein Schuppen war und unmittelbar an ein Wohnhaus grenzte. Von hier gelangte man in eine Küche, das hatte sie gesehen, obwohl der Mann – der andere, der ihr aus der Bibel vorgelesen und seine Finger in ihren Oberschenkel gekrallt und sie gestern oder vorgestern oder vorvorgestern mit einer Polaroidkamera fotografiert hatte –, obwohl dieser Mann das Licht ausmachte, bevor er die Tür öffnete und zu ihr kam. Den Mann, der sie heute aufgeweckt hatte, indem er ihr die Nase zuhielt und auf die Wangen schlug, hielt sie für jünger als den anderen, und er roch auch besser und hatte eine angenehmere Stimme. Er sprach einen Akzent, den sie nicht genau bestimmen
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