German Angst
weiß, ihre Komplizin sei Ilona Leblanc, ihre beste Freundin.«
»Sie hat die Vermisstenanzeige erstattet«, sagte Weber und notierte Ilonas Namen.
»Wir überwachen sie«, sagte Thon. »Und ich möchte, dass ihr noch einmal mit ihr redet, dass ihr sie unter Druck setzt. Von mir aus soll sie einen Anwalt einschalten, ich möchte, dass sie begreift, dass wir uns nicht zum Narren halten lassen.«
»Welche Interessen verfolgt der alte Felt?«, fragte Süden.
»Er hats nicht gern, wenn man eine halbe Million klaut, die er mitverdient hat«, sagte Thon, ohne Süden anzusehen.
»Mir gegenüber schien er ziemlich gleichgültig zu sein, was mit seiner Tochter passiert ist«, meinte Sonja. »Er sagte, er hält es für übertrieben, polizeilich nach ihr zu suchen.« Sehr plastisch konnte sie sich vorstellen, wie die beiden distinguiert gekleideten Männer, Felt und Thon, an dem niedrigen Louisquinze-Tisch saßen, an dem auch sie Platz genommen hatte, ihre Zigarillos pafften und an ihren Halstüchern nestelten; das Gespräch war sicher ebenso parfümiert gewesen wie die Luft um sie herum.
»Es ist stickig hier, ich mach mal das Fenster auf«, sagte Sonja und stand auf.
Es klopfte und eine junge Frau mit einer roten Designerbrille streckte den Kopf herein.
»Sorry«, sagte Oberkommissarin Freya Epp. »Ich hab hier ein Paar, also er ist der Vater, sie ist seine Freundin…«
Sie war erst seit einigen Monaten bei der Vermisstenstelle und galt als effektive Fahnderin, die absolut sachliche und verständliche Berichte abfasste. Fing sie an, Vorträge zu halten oder einfach kurze Informationen weiterzugeben, geriet sie in eine kuriose Wirrnis, die ihre Kollegen jedes Mal in stummes Staunen versetzte.
»Das Mädchen, die Tochter, die ist verschwunden, weil… das macht die nicht zum ersten Mal, aber diesmal…«
»Bitte, Freya«, sagte Thon, »wir sind in einer Besprechung. Wenn das Mädchen eine Trebegängerin ist, schau im Computer nach, wo wir sie das letzte Mal aufgegriffen haben…«
»Hab ich schon. Der Vater ist wirklich besorgt. Es geht um das schwarze Mädchen, die aus der Zeitung, die dauernd was anstellt, also die war ja auch schon hier und ich selber hab mit ihr gesprochen…«
»Lucy Arano?«, fragte Süden.
»Genau«, sagte Freya.
»Hör auf mit der!«, sagte Thon. »Das ist eine Dauerläuferin. Die ist kein Fall für uns, sondern fürs Jugendamt und für die Sozialbehörden.«
»Aber der Vater will eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagte Freya. Sonja stand am offenen Fenster und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
»Ich rede mit ihm«, sagte Süden und war schon an der Tür, bevor Thon erwidern konnte: »Du und Sonja, ihr fahrt zu Ilona Leblanc und anschließend noch mal ins Hotel. Ich möchte, dass wir bis morgen früh den Aufenthaltsort von Katharina Wagner kennen.«
Thon blickte zur Tür, die halb offen stand. Süden und Freya Epp hatten den Raum verlassen und von nebenan hörte man eine Frau telefonieren, Erika Haberl, die Sekretärin der Vermisstenstelle.
Er musste an seine Tochter Claudine denken, die war neun und ein umtriebiges, unerschrockenes Kind, dem man mit guten Argumenten zu kommen hatte, wenn man es überzeugen wollte. Wäre sie fähig, eines Tages einfach abzuhauen? Sich Straßenkindern anzuschließen, mit ihnen herumzuziehen, zu betteln, Drogen zu nehmen und die Gesellschaft zu verachten? Würde er die Anzeichen rechtzeitig erkennen und mit ihr sprechen und ihr zuhören? Und würde sie ihm erlauben zu sprechen und zuzuhören? Was wusste er von seiner Tochter? Was verheimlichte sie ihm? Welche Sehnsüchte wuchsen in ihr, welche Enttäuschungen schlummerten unbewältigt in ihr, welche Wut quälte sie und welche kindliche Furcht? Manchmal schaute er seine Tochter an und erkannte sich nicht wieder in ihr.
»Manchmal schau ich sie an«, sagte Christoph Arano, »und ich erkenn mich nicht.«
Er lehnte neben der Tür. Die junge Polizistin hatte ihm einen Platz angeboten, aber er blieb lieber in der Nähe des Ausgangs, vor allem in einem Polizeirevier. Er kannte solche Räume: ein Resopaltisch, zwei Stühle, eine Pflanze, ein niedriger Aktenschrank, ein Telefon, grauer Teppich, kein Komfort, keine Freundlichkeit. Nachts war er ein beliebter Ansprechpartner für Polizisten, die Streife fuhren und sich langweilten. Und da er meist keinen Ausweis bei sich hatte, nahmen sie ihn mit. Redeten ihn mit du an, machten abfällige Bemerkungen und ließen ihn stehen, während sie ihren Computer nach
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