German Angst
ihm durchforsteten. Sie fanden seinen Namen schnell und mussten ihn wieder gehen lassen. Er war ein registrierter Schwarzer. Er war kein deutscher Staatsbürger, er hatte eine Aufenthaltsberechtigung, unbefristet. Und ich bin katholisch wie die meisten Schwarzen in Bayern und darauf bin ich stolz.
Christoph Arano war achtunddreißig Jahre alt und mit sechs Jahren aus Nigeria nach München gekommen. Hätte ihn dieser Pfarrer damals nicht illegal in einem Rotkreuzhubschrauber außer Landes gebracht, wäre er ermordet worden oder verhungert wie zwei Millionen seiner Landsleute. So wuchs er in einem schönen Land auf, bekam fürsorgliche Pflegeeltern, machte eine Lehre und baute sich eine Existenz auf. Er heiratete und bekam eine Tochter. Dann starb seine Frau bei einem fürchterlichen Unglück und seither bangte er jeden Tag um die Ernte seines Lebens. Sein kleiner Sanitärbetrieb lief immer noch gut, obwohl sein Partner ihn betrog und versuchte, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Arano hatte sich sogar neu verliebt und die Absicht zu heiraten. Doch all dies war kein Trost für den Kummer, den ihm seine Tochter bereitete. Bei jedem unerwarteten Anruf erschrak er, weil er fürchtete, ihr sei etwas zugestoßen oder sie habe etwas Schreckliches getan. Und was sie bisher angestellt hatte, war schrecklich genug.
»Ich mach mir große Sorgen«, sagte er. Das stimmte, und auch wieder nicht. Natürlich grübelte er über nichts mehr nach als darüber, wie er Lucy zur Vernunft bringen, wie er wieder Einfluss auf sie ausüben konnte. Worüber er sich im Moment weniger sorgte, war, wo sie sich gerade aufhielt. Sie trieb sich ständig herum, sie verschwand, kam wieder, ging in die Schule, tauchte ab und wieder auf. Das war ein Spiel, ein eigenwilliger, unbegreiflicher Rhythmus, den er beschlossen hatte zu akzeptieren. Was sie manchmal tat auf ihren Ausflügen, war unverzeihlich und er verzieh ihr auch nicht. Trotzdem glaubte er fest an eine Besserung, an eine Wendung in ihrem Wesen, an den Tag, an dem die Wunde in ihr heilte. Netty hatte ihn gedrängt zur Polizei zu gehen und er hatte sich drei Stunden dagegen gewehrt. Übermorgen hatte Lucy Geburtstag und da würde sie vor der Tür stehen, davon war Arano überzeugt. Was sollte die Polizei tun? Sie kannten seine Tochter, Lucy war eine registrierte Person, so wie er eine registrierte Person war. Er war verantwortlich für sie, er war schuld an dem, was sie tat, er war der Täter, wenn sie in einem Kaufhaus Lippenstifte und T-Shirts klaute, wenn sie auf der Straße alte Frauen mit dem Messer bedrohte, wenn sie Fensterscheiben einschlug und auf dem Schulhof auf andere Mädchen eindrosch oder den Jungs Fußtritte zwischen die Beine verpasste. Für die Polizei war er ein Vater, der völlig versagte und es sogar duldete, dass seine Tochter tagelang wegblieb und die Schule schwänzte. Bestimmt zehntausend Mark hatte er schon an die Opfer seiner Tochter bezahlt, Schmerzensgeld, Entschuldigungsgeld, Reuegeld. Und was hatte es genützt?
»Eine Freundin von ihr hat mich angerufen, das ist sehr ungewöhnlich«, sagte Natalia Horn, die sich als Einzige hingesetzt hatte. Sie trug einen blauen flachen Hut und einen weißen Blazer mit einer goldenen Brosche. Sie sah herausgeputzt aus und bemühte sich, ihre Nervosität zu unterdrücken, was ihr schwerlich gelang.
»Normalerweise ist Lucy immer nur kurz weg…« Sie sah Tabor Süden an, der einen Meter von ihr entfernt stand und dessen Gegenwart sie aus einem unerklärlichen Grund beruhigte. Sie hatte das Gefühl, er hörte ihr zu und tat nicht nur so, wie ihre Kunden, die doch nur an ihren eigenen Geschichten interessiert waren. »Diese Freundin, Tamara, sie sagte, sie seien verabredet gewesen, Lucy und sie und die anderen aus der Clique, ich kenn die nicht. Das sind alles Schulfreunde. Aber das ist noch nie vorgekommen, dass eine von denen angerufen und sich nach Lucy erkundigt hat…«
»Frau Horn befürchtet, dass Lucy in die Schießerei in Schwabing verwickelt war«, sagte Freya Epp. Sie hatte einen Din-A-5-Block in der Hand, dessen erste Seite eng beschrieben war.
»Was für eine Schießerei?«, fragte Süden schnell und Freya sah ihn erstaunt an.
»In der Hohenzollernstraße. Ein Taxifahrer hat auf ein Mädchen geschossen, das vorher einen Kaufhausdetektiv niedergeschlagen hat, also der hat sie wahrscheinlich angegriffen, da gehen die Aussagen auseinander, also das war so, dass…«
»Wann war das?«
»Kurz nach eins.«
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