Germania: Roman (German Edition)
er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den dunklen Gegenstand. Wenn er etwas erkennen wollte, hatte er keine andere Wahl, als die Taschenlampe einzuschalten. Er richtete den Lichtkegel nach unten und sah, was vor ihm lag. Er hatte so etwas schon an der Front gesehen, doch alle seine Kriegserfahrungen hatten ihn nicht auf diesen menschlichen Körper vorbereiten können, den rohe Gewalt grotesk verunstaltet hatte. Schnell schaltete der Wärter seine Lampe wieder aus und unterdrückte mit einiger Mühe den Brechreiz. Trotz der Spitzhacke fühlte er sich plötzlich schutzlos.
Die ganze Nacht über hatte Oppenheimer nicht schlafen können. Diesmal lag es nicht an dem Luftangriff, der ihn aus dem Bett geholt hatte. Lisa war sofort eingeschlafen, als sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren konnten, aber Oppenheimer wälzte sich im Bett herum. Der Gedanke an Dr. Klein ließ ihm keine Ruhe. Tief in sich fühlte er eine Bitterkeit, die sich nicht mehr abschütteln ließ. Er lag hier im Bett und konnte nicht viel mehr tun, als in die Dunkelheit zu starren.
Plötzlich ein dumpfes Geräusch. Schritte. Jemand war im Treppenhaus, stieg zu ihrem Stockwerk herauf. Wenige Sekunden später öffnete sich die Küchentür. Die Schritte näherten sich ihrem Zimmer. War das etwa die Gestapo? Eine neue Hausdurchsuchung? Oppenheimer hielt den Atem an. Dann klopfte jemand an die Tür.
»Oppenheimer?«, fragte eine Stimme.
Zögernd zog Oppenheimer seine Hose an und öffnete die Tür. In der hell erleuchteten Küche stand Hoffmann. »Einsatz«, sagte er knapp. Oppenheimer wusste, was das zu bedeuten hatte.
»Verflixt und zugenäht!«, murmelte er. Der Täter hatte wieder zugeschlagen. Wieder hatte er eine Frau getötet. In Momenten wie diesen hasste Oppenheimer seinen Beruf.
Der Regen hatte nachgelassen, als Vogler in der Morgendämmerung vor dem Eingang zum Friedhof Bergstraße stand. Bei diesen Lichtverhältnissen sah seine Gesichtsfarbe ausgesprochen ungesund aus, doch Oppenheimer war sich sicher, dass er selbst wohl auch kein besseres Bild abgab. »Wir haben eine Zeugin!«, sagte Vogler mit breitem Grinsen.
Erregt riss Oppenheimer die Augen auf. »Was hat sie gesehen?«
»Ich habe zwei meiner Leute zur Polizeiwache geschickt. Die Zeugin wurde gleich dabehalten, damit wir sie direkt vernehmen können. Soweit ich den Friedhofswärter verstanden habe, hat sie jemanden gesehen, der sich am Tor zu schaffen machte. Kurz bevor die Leiche gefunden wurde.«
Danach erklärte Vogler, dass das Nordportal des Friedhofs aus einem großen Eisentor bestand, das von zwei kleineren Pforten flankiert wurde. Nachts sperrte der Friedhofswärter das große Tor gewöhnlich mit einer Kette ab. Der Eindringling hatte ein Glied der Kette durchtrennt, sehr wahrscheinlich mit einem Bolzenschneider.
Vogler führte Oppenheimer den breiten Weg quer durch das Friedhofsgelände entlang. Prunkvolle Grabmale, die kurz nach der Jahrhundertwende errichtet worden waren, befanden sich neben schlichten Steinen, die aktuelleren Datums waren, doch ihre Konturen verwischten noch im schattenlosen Zwielicht der Dämmerung. Der flache Bau, auf den sie zuhielten, wirkte im Vergleich zu der darüber aufragenden Backsteinkonstruktion des schlanken Wasserturms ein wenig klobig. Oppenheimer konnte sich dunkel daran erinnern, dass dieser Turm niemals seinen ursprünglich zugedachten Zweck als Wasserreservoir erfüllt hatte. Für dieses repräsentative und gleichzeitig ziemlich zwecklose Gebäude hatte die NSDAP eine bessere Verwendung gefunden, nämlich als Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und der NS-Bewegung.
Plötzlich ein Magnesiumblitz aus der Richtung der Gedenkhalle. Zweifellos waren die Polizeiphotographen gerade bei der Beweissicherung.
»Dort vorn?«, vergewisserte sich Oppenheimer, während er seine Schritte beschleunigte. Vogler schien überrascht von Oppenheimers plötzlicher Agilität.
»Direkt vor dem Hauptportal«, sagte er und eilte hinter Oppenheimer her. Oppenheimer lief an einem SS-Mann vorbei, der den Fundort mit geschultertem Gewehr bewachte. Als er um die Ecke der Säulenhalle bog, sah er die Plane. Der Photograph legte sie gerade mit seinem Gehilfen wieder über die Leiche. Nur vereinzelte rote Locken ragten unter der Abdeckung hervor. Der tote Körper befand sich in der Nähe der Haupttreppe, die zum Eingang des Gebäudes hinaufführte.
Wieder dasselbe Muster, dachte
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