Germania: Roman (German Edition)
war die Luft frisch wie im Herbst. Vom Wald waren nur noch Schattenumrisse erkennbar, die sich im Nebel verloren. Fest in ihre Mäntel gepackt, tauchten sie in das weiche Zwielicht ein.
Untergehakt wanderte Oppenheimer mit Lisa an einer Straße vorbei, die preußisch-knapp nur Dienstweg benannt war. »Nett«, kommentierte Lisa das Straßenschild.
»Weiter hinten gibt es eine Straße, die heißt Im Kinderland «, erklärte Oppenheimer. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich weiß nicht, ob es was zu sagen hat, dass es eine Sackgasse ist.«
Lisa schüttelte den Kopf. »Diese Leute sind verrückt.« Sie überlegte kurz. »Trotzdem ist es hübsch hier. Wenn wir nur bleiben könnten. Endlich komme ich mal ein bisschen zur Ruhe.« Sie blieb stehen und atmete mit geschlossenen Augen ein. Dann blickte sie wieder ihren Ehemann an. »Doch es kann nicht für immer sein, habe ich recht?«
»Sie werden uns hier nicht wohnen lassen. Das dürfen nur privilegierte SS-Leute. Die Bonzen stehen sicher Schlange, um ihre Familien hier unterzubringen. Immerhin, ein paar Tage in dieser Idylle haben wir uns verdient.«
»Und danach kommt …«
»Hilde arbeitet bereits daran«, flüsterte Oppenheimer. »Wir können uns auf sie verlassen. Wenn es jemandem gelingt, uns heil hier rauszubringen, dann ihr.«
»Ich weiß, dass man auf sie zählen kann. Trotzdem ist es besser, nicht daran zu denken, was später geschehen wird.«
»Im Vorhinein zu trauern nützt nichts. Jetzt sind wir hier. Und das ist gut so.«
Sie umarmten sich und standen da, als würde die Zeit nicht mehr existieren. Oppenheimer fühlte sich in die Phase seines Lebens zurückversetzt, als er Lisa kennengelernt hatte und alles an ihr neu und aufregend war. Er dachte an ihren Nacken, an die langen Haare, die wie Wasser herabzufließen schienen, wenn sie sich über ihn beugte, an ihr Schamgefühl, als sie sich zum ersten Mal nackt geliebt hatten. Unvermittelt verspürte er einen Knoten im Magen. Er kam sich vor wie ein dummer Schuljunge, und dennoch konnte er dem Drang nicht widerstehen, Lisa zu küssen. Als er sich vorbeugte, blickte sie ihn zunächst überrascht an, doch dann verstand sie und ließ ihn mit einem gutmütigen Lächeln gewähren.
Oppenheimer versuchte, sich jedes Detail dieses Augenblicks einzuprägen, ihn festzuhalten für die Zeit der Prüfungen, die zweifellos noch vor ihnen lag.
25
Samstag, 24. Juni 1944
O ppenheimer war sich sicher, dass ihn ein Geräusch geweckt hatte. Die Sonne schien ihm durch das Fenster direkt ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen richtete er sich im Bett auf und musterte das Zimmer. Die geblümten Tapeten irritierten ihn, dies hier war nicht seine gewohnte Umgebung. Dann fiel ihm wieder ein, dass sie sich in Zehlendorf befanden.
Lisa lag schlafend neben ihm. Es war zehn Uhr. Für seine Verhältnisse hatte er lange geschlafen. Die Zimmertür erweckte seine Neugierde, da sie einen Spaltbreit offen stand, obwohl sich Oppenheimer genau daran erinnern konnte, sie gestern zugezogen zu haben. Wahrscheinlich war Lisa auf der Toilette gewesen, dachte er. Plötzlich ein zaghaftes Klopfen am Türblatt. Jemand räusperte sich geräuschvoll. »Herr Oppenheimer, sind Sie jetzt wach?« Es war der Funker.
»Was gibt’s denn?«, maulte Oppenheimer.
»Hauptsturmführer Vogler hat mir den Befehl gegeben, Sie zu wecken. Es ist dringend.«
Oppenheimer war klar, was das zu bedeuten hatte. Sie hatten eine weitere Leiche entdeckt. Es konnte nicht anders sein. Missmutig ließ er sich zurücksinken und schloss die Augen. Das Bett war angenehm warm. Er hasste den Gedanken, dass es noch eine Welt jenseits dieser Laken gab.
»Herr Oppenheimer? Kommen Sie?«
»Na komm schon, raus mit der Sprache, wenn’s wichtig ist! Was ist passiert?«
»Wir haben ihn gefasst.«
Oppenheimer konnte sich später nicht daran erinnern, sich angekleidet zu haben. Im Nu stand er fertig angezogen neben dem Bett. Lisa wachte langsam auf, räkelte sich unter der Bettdecke. Ihr Lächeln verflog, als sie ihren Mann durch den Raum hasten sah.
»Richard, was ist?«
Oppenheimer beugte sich zu ihr. »Du musst zu Hilde«, flüsterte er. »Geh, sobald ich weg bin. Sag ihr, dass wir den Verdächtigen gefasst haben. Karl Ziegler. Und gib acht, dass niemand dir folgt.«
Die großen Fenster an den Seiten des gewaltigen Mansarddaches waren schon von weitem zu erkennen. Früher beherbergte dieses Gebäude eine Kunstgewerbeschule, doch mittlerweile wurden die
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