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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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Kommode nach vorn und untersuchte die Rückseite. Natürlich hatten auch die SD-Leute daran gedacht, doch das hinderte ihn nicht, nochmals die kleinen Schubladen herauszuziehen, deren Böden von unten zu inspizieren und in die leeren Schubfächer zu greifen, auf der Suche nach Gegenständen, die dort versteckt sein konnten. Doch er fand nichts. Die beiden Tische besaßen keine Schubladen, waren nichts weiter als rohe Holzplatten auf vier Beinen. Auch hier ließ sich nichts verstecken. Oppenheimer fluchte vor sich hin.
    Als er einen Schritt rückwärts machte und auf die Wäsche trat, spürte er plötzlich unter seinem Fuß einen harten Gegenstand. Oppenheimer glaubte, ein gedämpftes Knacken vernommen zu haben. Überrascht drehte er sich um und hob mit spitzen Fingern eine Unterhose hoch. Und tatsächlich hatte er sich nicht getäuscht. Unter ihr lag eine zerbrochene Schallplatte. Bei diesem Anblick beschloss Oppenheimer, erst mal die Schallplatten einzusammeln, damit er sich frei bewegen konnte, ohne Gefahr zu laufen, noch weitere zu zertrampeln.
    Als er nach der Papierhülle suchte, erinnerte er sich daran, dass Ziegler seine Schallplatten genauso ordentlich verwahrt hatte, wie es Oppenheimer mit seinen eigenen Schätzen tat. Plötzlich keimte in ihm die Hoffnung, den doofen Kalle mit ihrer gemeinsamen Vorliebe für Schallplatten aus der Reserve locken zu können. Zieglers Musikgeschmack war vielleicht ein Weg, um ihn besser verstehen zu können. Je mehr er darüber nachdachte, desto aussichtsreicher erschien ihm dieser Ansatz. Als er den Boden absuchte, fand er an die dreißig Scheiben und stellte sie eine nach der anderen ordentlich in den leeren Metallständer. Einige der Papierhüllen waren zerrissen, doch die meisten waren in einem guten Zustand, so dass er den Großteil der Platten wieder hineinschieben konnte.
    Ziegler hatte keinen außergewöhnlichen Geschmack. Es gab ein paar Märsche und populäre Schlager wie Heimat deine Sterne. Einige der Scheiben waren jedoch ohne Beschriftung. Neugierig geworden, untersuchte sie Oppenheimer näher. Es konnten keine normalen Schallplatten sein, wie es sie in den Geschäften zu kaufen gab. Und tatsächlich, es waren Azetatplatten. Ziegler schien eigene Tonaufnahmen gemacht zu haben. Vier der Matrizen waren noch unbeschrieben, doch in den übrigen war eine Tonspur eingraviert. Oppenheimer fragte sich, was Ziegler wohl alles aufgenommen hatte. Hatte er etwa Radiosendungen mitgeschnitten?
    Schließlich legte er eine der Azetatmatrizen auf den Plattenteller des Grammophons und setzte behutsam die Nadel in die Rille.
    Das Grammophon begann zu schreien. Eine Frauenstimme. Ein leises Wimmern folgte, das sich schließlich zu einem weiteren panischen Schrei steigerte. Oppenheimer hatte sich immer für einen routinierten Polizeibeamten gehalten, und obwohl er bereits viel erlebt hatte und generell als abgebrüht galt, gefror ihm das Blut in den Adern. Er lauschte dem Tondokument einer Folter und wurde Zeuge unfassbaren Grauens. Zwar hatte sich das alles in der Vergangenheit abgespielt, doch die Aufzeichnung transportierte Oppenheimer unmittelbar an den Ort des Geschehens. Er hörte das metallische Klopfen eines Hammers, der auf Stahl traf, ein Nagel, der mit jedem Stoß immer tiefer in den Gehörgang des Opfers getrieben wurde. Nun bekam er eine Vorstellung davon, was die Frauen in der Gewalt dieses Wahnsinnigen hatten erleiden müssen.
    Die Aufnahme auf dieser Schallplattenseite dauerte knapp vier Minuten. Oppenheimer bereute es fast, dass er die Scheibe abgespielt hatte, empfand jedoch gleichzeitig eine grimmige Art von Erleichterung darüber, dass jener Alptraum nun endlich vorbei sein würde. Als er schließlich die Nadel wieder von der Azetatplatte hob, war er sicher, dass er diese Tonaufzeichnung niemals in seinem Leben vergessen würde.

26
    Samstag, 24. Juni 1944
    W illst du sterben?«, zischte die Stimme.
    »Ja«, schluchzte die Frau.
    »Du musst mich erst darum bitten.«
    »Ja, bitte töte mich! Bitte töte mich!«
    Oppenheimer konnte es nicht länger ertragen. Er schaltete das Grammophon ab und musterte Ziegler. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht war gerötet, doch er sagte nichts, starrte wortlos auf den Trichter des Gerätes.
    »Was sind das für Aufnahmen?«, herrschte Oppenheimer ihn an. Seine Stimme war ein bisschen lauter als geplant. Mühsam schluckte er seinen Zorn hinunter. Es kostete ihn einige Überwindung, um ruhig mit Ziegler zu

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