Germania: Roman (German Edition)
Allerdings wurde sie durch ihn geschützt. Erich würde alles tun, damit sein Ansehen bei den Parteioberen nicht kompromittiert wurde. Er war erpressbar geworden. Und Hilde wusste das. Sie konnte es sich leisten, gewisse Risiken einzugehen, in der Gewissheit, dass Erich im Ernstfall alles regeln würde.
Sie sehnte sich danach, ihn zu vergessen. Aus diesem Grund hatte sie angefangen, Erichs Kleidung zu verschenken. Hilde hatte sich das Ziel gesetzt, ihn aus ihren Gedanken vertrieben zu haben, sobald die Kleider alle fort waren. Und nun verschenkte sie ihre Erinnerungen. Stück für Stück. Noch ein harter Winter, und Hilde würde Erich vergessen haben. Zumindest hoffte sie das.
Als Hilde den Schrank wieder verschloss und überlegte, ob Oppenheimer ebenfalls von seiner Frau erwartete, dass sie sich um den Haushalt kümmerte, klopfte es unten an der Eingangstür zur Praxis. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass sie noch jemanden erwartete. Die Aufregung wegen Richard hatte sie abgelenkt.
Hilde öffnete die Tür.
»Bin ich hier richtig bei …« Die junge sommersprossige Frau verstummte ängstlich und schaute auf den Zettel in ihrer Hand. Schließlich reichte sie ihn Hilde.
Ein kurzer Blick genügte. »Ja, du bist hier richtig. Komm besser rein.«
Nachdem die junge Frau ihren Mantel abgelegt hatte, stand sie unschlüssig im Behandlungszimmer.
»Keine Angst«, versuchte Hilde, sie zu beruhigen, »ich bin Ärztin. Dir wird nichts geschehen. Wie alt bist du?«
»Ich bin … nächsten Monat werde ich siebzehn.«
Hilde schätzte sie mindestens zwei Jahre jünger. Sie seufzte bei dem Gedanken.
»Ich habe schon alles vorbereitet. Wenn du nicht möchtest, dass es geschieht, dann brauchen wir es nicht zu tun. Ein Wort von dir, und ich blase alles ab.«
Die junge Frau gehorchte Hildes Anweisungen, legte sich auf die Behandlungsliege und spreizte ihre Beine.
4
Montag, 8. Mai 1944
D ie Nacht war ohne Störungen verlaufen. Selbst von den sogenannten Moskitos, vereinzelte Flugzeuge, die ihre Bomben unkoordiniert abwarfen, waren sie verschont geblieben. Es war früh am Morgen, als Oppenheimer lustlos die Treppe hinuntertrottete und sich auf den Weg zur Arbeit machte.
Sobald er auf den Gehsteig getreten war, erblickte er einen Mann, der an der nächsten Straßenecke wartete. Er konnte geradezu spüren, dass dieser Kerl von der Gestapo oder vom Sicherheitsdienst sein musste. Schon nach wenigen Schritten vernahm er dicht hinter sich eine Stimme.
»Herr Oppenheimer?«
Er drehte sich um und starrte in das Gesicht des unbekannten Mannes.
»Ja?«, fragte Oppenheimer.
»Sicherheitsdienst. Bitte kommen Sie mit.«
»Ich muss zur Arbeit …«
»Kümmern Sie sich nicht darum«, erwiderte der Mann lakonisch.
Ein metallisches Klirren drang an Oppenheimers Ohren. Dann ein Rufen, gefolgt von weiterem Klirren. Wenige Sekunden später standen sich die zwei weißen Gestalten bewegungslos gegenüber und taxierten einander.
»Setzen Sie sich«, befahl der SD-Beamte. Oppenheimer blieb nichts anderes übrig, als sich auf eine Holzbank zu hocken und den beiden Fechtern in der riesigen Halle zuzusehen. Am Ende des Kampfes nahm der Sieger die Maske ab. Es war Vogler. Oppenheimer sah ihn zum ersten Mal bei Tageslicht. Er schätzte ihn auf etwa Mitte zwanzig. Aschblonde Haarsträhnen fielen Vogler in die Stirn. Oppenheimers Schwägerin, die in einem Leipziger Frisiersalon arbeitete, pflegte diese undefinierbare Haarfarbe straßenköterblond zu nennen. Mit federnden Schritten kam Vogler auf sie zu und zog dabei seine Handschuhe aus. Stirnrunzelnd musterte Oppenheimer die pechschwarzen SS-Runen auf der weißen Metallweste.
»Kommen Sie mit, Oppenheimer«, sagte der Hauptsturmführer statt einer Begrüßung. Oppenheimer erhob sich und trottete hinter ihm her. In der Umkleide angelangt, musterte Vogler ihn interessiert. Dann begann er, sich zu entkleiden. Oppenheimer wurde ein wenig mulmig zumute, da er nicht wusste, welches Spielchen hier mit ihm getrieben wurde. Die Situation, in der sie sich befanden, ähnelte dem Degenkampf von vorhin. Beide warteten auf den ersten Schritt des Gegners. Vogler nahm ein Handtuch und stolzierte nackt vor Oppenheimer herum. Dies war wohl seine nicht allzu subtile Art, der Umwelt mitzuteilen, dass es nichts gab, weswegen er sich schämte.
Schließlich fragte Oppenheimer: »Also, weshalb bin ich hier?«
Im Vorbeigehen sagte Vogler: »Um es kurz zu machen: Wir brauchen Ihre Hilfe bei der Aufklärung
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