Germania: Roman (German Edition)
blickte interessiert zu Oppenheimer hinüber. »Der Fall Haarmann sagt mir etwas.«
»Haarmann? Tja, Haarmann war ein Päderast. Er lebte in Hannover. Beim Sexualakt biss er seinen Lustknaben in den Kehlkopf oder in die Halsschlagader. Danach zerstückelte er die Leichen.«
»Und dieser Kürten? Was war mit dem?«
»Er wurde der Vampir von Düsseldorf genannt. Es war um 1930, als er verurteilt wurde. Auch ein Massenmörder. Er erstach seine Opfer und trank Blut aus ihren Wunden, um sich sexuell zu befriedigen. Aber das war alles nichts im Vergleich zu Großmann.«
»Und was hat dieser Großmann angestellt?«
»Er tötete Frauen beim Sexualakt. Prostituierte, häufig auch obdachlose Frauen, denen er eine Unterkunft versprach. Einige von ihnen hatten sogar für ihn als Haushälterin gearbeitet. Wenn sie nicht willig waren, vergewaltigte er sie. Manchmal verstümmelte er das Geschlechtsteil und den After seiner Opfer mit Küchengeräten. Auch vor Kindern schreckte er nicht zurück. Die Leichen zerstückelte er. In der Nähe seiner Wohnungen fand man immer wieder Körperteile. Zudem verkaufte er Wurstwaren. Möglich, dass er einige der Leichen zu Wurst oder Dosenfleisch verarbeitet hatte. Es gab auch Gerüchte, dass er Teile seiner Opfer selbst verspeiste. Es war … nun ja, es bringt wohl nichts, darüber zu sprechen.«
»Was wollten Sie sagen?«
»Wir konnten ihm nur drei Morde zweifelsfrei nachweisen und waren noch mit den Ermittlungen beschäftigt. Natürlich wollten wir genau wissen, wie viele Opfer es gegeben hatte. Aber dann wurde uns der Fall weggenommen. Man hatte es wohl eilig, ihn vor den Richter zu bringen. Großmann wurde wegen der drei Morde angeklagt, während der Verhandlung erhängte er sich dann. Wir werden nie erfahren, wie viele Menschen er umgebracht hat. Es gab eine ganze Reihe ungeklärter Sexualmorde, die wir mit ihm in Verbindung bringen konnten. Es müssen Dutzende gewesen sein. Mindestens. Seitdem bin ich nie wieder jemandem wie ihm begegnet.«
Oppenheimer hatte Großmanns Taten ungewöhnlich drastisch geschildert. Er wollte prüfen, ob es möglich war, Vogler aus der Reserve zu locken. Doch dieser zuckte bei der Aufzählung der Grausamkeiten nicht einmal mit der Wimper.
»Wenn man die Polizeiphotographien anschaut, wird deutlich, dass er ein Untermensch war. Der Schädelbau, die Nase, ein typischer Fall.«
Vogler hielt Oppenheimer das Bild hin. Es hatte sich die ganze Zeit über in den Unterlagen befunden. Nach all den Jahren starrte Oppenheimer wieder die Fratze des Monsters an. Als er das Gesicht über dem kragenlosen weißen Hemd sah, stellten sich ihm unwillkürlich die Nackenhaare auf. Großmanns zusammengekniffene Augen, die durch die Beleuchtung wie zwei dunkle Sehschlitze wirkten, blickten Oppenheimer feindselig entgegen. Für einige Sekunden kam er nicht umhin, wie hypnotisiert auf die Photographie zu schauen.
Mit Großmanns Gesicht waren andere Eindrücke verknüpft. Die Matratze, besudelt mit Blut und Kot, tief eingeschnitten in der Haut des Opfers der Abdruck des Seils, die Blutergüsse der armen Frau, das zerfetzte Fleisch zwischen ihren Beinen, die Küchenutensilien auf dem Boden in einer übelriechenden, dunklen Flüssigkeit – dies alles fügte sich zu einem Bild, das tief in Oppenheimers Gedächtnis eingebrannt war.
Schließlich räusperte er sich. Überlegte. Dann fing er langsam an, den Kopf zu schütteln. »Entschuldigung, dass ich dem widersprechen muss, aber nach meinen Erfahrungen sieht man keinem Menschen an, was in ihm vorgeht. Es mag da zwar gewisse Theorien geben, aber ich kann nur aus der Praxis sprechen.«
Als Vogler ihn skeptisch musterte, bemerkte Oppenheimer, dass er womöglich zu weit gegangen war. Er musste aufpassen. Unter dem Einfluss von Pervitin wurde er manchmal unvorsichtig. Hastig fügte er hinzu: »Vielleicht irre ich mich ja. Die Zeiten sind anders geworden. Warum nicht auch die Verbrecher?«
Vogler schmunzelte vergnügt, sagte jedoch nichts.
Plötzlich wurde die Stahltür von einem SS-Mann aufgerissen. »Entwarnung!«, rief er in das Kellergewölbe.
»Jetzt schon?«, fragte Vogler verwundert. Auch Oppenheimer hatte noch nicht mit einer Entwarnung gerechnet. Normalerweise musste man bei einem Angriff drei bis vier Stunden im Bunker verbringen.
Durch die geöffnete Tür drang das entfernte Entwarnungsheulen der Sirenen herein. Vogler richtete sich auf und blickte zu Oppenheimer. »Heute läuft alles anders als geplant«, sagte er.
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