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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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zu kümmern. In erster Linie war er zufrieden, dass sie es ihm ermöglichte, sich nicht verstellen oder vorsichtig sein zu müssen. Für ihre Freundschaftsdienste verlangte sie keinerlei Gegenleistungen. Fast schien es so, als sei seine Anwesenheit für sie Belohnung genug.
    Nach einer Weile kam Hilde zurück und setzte sich zu ihm. »Hier«, sagte sie und gab ihm eine Strickjacke. »Ich sehe, dass du schon wieder mit gestopften Kleidern herumläufst.«
    Oppenheimer nahm das Geschenk zögernd an. Es war ihm ein wenig peinlich, dass Hilde ihn immer so reich beschenkte. Doch eine warme Strickjacke konnte man in diesen Zeiten der strengen Rationierung gut gebrauchen. »Und du benötigst sie wirklich nicht?«
    Hilde schüttelte den Kopf. »Ist nicht meine Größe. Und die Farbe Hellbraun steht mir sowieso nicht. Besser, ich gebe dir die Jacke, anstatt sie den Nazis bei der nächsten Spinnstoffsammlung in den Rachen zu werfen.«
    »Danke.« Oppenheimer musste kurz schmunzeln. »Ich frage mich, wie die SS ausgerechnet auf mich gekommen ist. Es gibt genügend Mordkommissare. Da sollte sich doch ein linientreuer Kripo-Mann finden lassen. Warum also mich in der Nacht aufschrecken und in Windeseile an den Fundort der Leiche bringen?«
    »Ich denke, es liegt auf der Hand, was passiert ist. Sie haben in den Akten gestöbert und herausgefunden, dass du an den Ermittlungen gegen Karl Großmann beteiligt warst.«
    Oppenheimer zuckte innerlich zusammen, als er nach all den Jahren wieder den Namen des Scheusals vernahm. Für eine Ärztin wie Hilde, die sich für die Psyche von pathologischen Mördern interessierte, war Großmann natürlich ein gefundenes Fressen. Und obwohl seitdem bereits viele Jahre vergangen waren, erinnerten sich die Berliner immer noch mit kaltem Schaudern an die unfassbare Taten des Mannes. Oppenheimer hatte mit Hilde mehr als ein Mal über Tötungsdelikte und deren Aufklärung diskutiert, aber jetzt bereute er es fast, sie so detailliert eingeweiht zu haben. In der letzten Zeit hatte er immer seltener an Großmann gedacht, doch die Erinnerung an dessen Taten schlummerte in den Winkeln seines Gehirns und wartete nur darauf, geweckt zu werden. Ausgerechnet dieser erste Fall, an dessen Aufklärung er als junger Kriminalbeamter beteiligt gewesen war, hatte sich als der schlimmste herausgestellt, den er im Laufe seiner Karriere bearbeiten sollte.
    »Das ist doch schon eine Ewigkeit her«, protestierte er. »Außerdem war ich nur Assistent. Ich habe Laufarbeiten erledigt und ein paar Mal Großmanns Vernehmung protokolliert. Das war’s auch schon.«
    »Großmann gilt als der klassische Lustmörder. Vielleicht denken die von der SS, dass sie es hier wieder mit so einem zu tun haben.«
    »Ich seh da keinen Zusammenhang«, erklärte Oppenheimer stur. Eigentlich war ihm dieser Gedanke schon wesentlich früher gekommen, doch ein Teil seines Verstandes sträubte sich gegen die Vorstellung, es erneut mit einer solchen Bestie in Menschengestalt zu tun zu haben.

    Als Oppenheimer ging, blieb Hilde noch eine Weile in ihrer Eingangstür stehen und beobachtete, wie er verschwand.
    »Sei behütet«, sagte sie mit tonloser Stimme. Natürlich hörte er sie nicht, doch da heutzutage jeder Abschied der letzte sein konnte, wurde sie leicht rührselig.
    Sie stieg die Treppe hoch und ging in ihr Schlafzimmer, um den Schrank zu schließen, aus dem sie die Strickjacke genommen hatte.
    Erichs Strickjacke.
    In der hintersten Ecke des Schranks hingen noch einige Kleidungsstücke ihres Gatten. Hilde hatte ihn während des Medizinstudiums kennengelernt. Sie bewunderte seinen Intellekt, der mit einer ausgesprochenen Radikalität einherging. Für einige Jahre hatte Hilde wirklich geglaubt, einen Seelenverwandten gefunden zu haben.
    Die Ehe verlief zunächst recht harmonisch. Hilde hatte sich damit abgefunden, die Hausfrau zu spielen, die Erich haben wollte, obwohl sie es immer als ihre Bestimmung gesehen hatte, eine eigene Arztpraxis zu führen. Doch als sich ihr Mann zunehmend für Erbbiologie und Rassenhygiene interessierte, war er ihr irgendwann entglitten.
    Hilde hatte um ihre Ehe gekämpft, aber als Erich schließlich der SS beitrat, wo er als Hauptscharführer Hauser eine Ausbildung zum Militärarzt erhielt, hatte Hilde die letzte Konsequenz gezogen und Schluss gemacht.
    Seitdem war Erich in der NS-Hierarchie aufgestiegen. Trotz allem spürte Hilde nach wie vor so etwas wie Zuneigung zu ihm, ein Gefühl, das sie sich selbst verübelte.

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