Germania: Roman (German Edition)
mit einem Leichenschänder zu tun haben. Die Fesselungsspuren an den Hand- und Fußgelenken des Opfers sprechen zwar dagegen, doch Tote gibt es heutzutage ja im Überfluss. Vielleicht hat er den Körper der jungen Dame irgendwo gefunden und dann verstümmelt. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar sehr gering, doch Gewissheit werden wir erst haben, wenn der Obduktionsbericht vorliegt. Bis dahin müssen wir in Betracht ziehen, dass der Täter sie vielleicht nicht selbst ermordet hat.«
Fragen über Fragen. Oppenheimer machte sich keine Illusionen. Die Hinweise waren mehr als dürftig. Es würde eine äußerst schwierige Untersuchung werden.
Auch Vogler schien sich dessen bewusst zu sein. Nach einigen Überlegungen fragte er: »Wie geht man Ihrer Meinung nach bei einem solchen Fall am besten vor?«
»Das Wichtigste ist, die Tote zu identifizieren. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter. Meistens gibt es irgendeine Verbindung zum Täter. Wir müssen so viel wie möglich über das Leben des Opfers in Erfahrung bringen. In ihrer Biographie lässt sich möglicherweise ein Hinweis auf das Motiv finden.«
»Welche Maßnahme führt am schnellsten zum Erfolg?«
»Tja, wenn man das immer gleich wüsste. Ich befürchte, ein Patentrezept gibt es da nicht. Wir müssen uns auf einen längeren Zeitraum einrichten. Ob Wochen oder Monate – das lässt sich nicht sagen. Wir wissen nicht einmal, ob unsere Maßnahmen von Erfolg gekrönt sein werden. Häufig ist es nur ein dummer Zufall, der auf die richtige Spur führt. Und der lässt sich leider nicht planen. Im Prinzip gibt es nur eines zu tun: Wir müssen aufmerksam sein und uns davor hüten, vorschnell zu urteilen.«
5
Montag, 8. Mai 1944 – Mittwoch, 10. Mai 1944
D er Regen, der aus den grauen Wolken auf Oppenheimer fiel, hatte es immer noch nicht geschafft, die Atmosphäre reinzuwaschen. Obwohl am Himmel längst kein Rauch mehr zu erkennen war, hing über den Trümmern der Stadt unverändert eine störrische Staubglocke.
Nach der Unterredung mit Vogler war Oppenheimer zu Hilde gegangen, um ihr mitzuteilen, dass er vorerst doch nicht abtauchen musste. Als sie ihn daraufhin davon unterrichtet hatte, dass in der Nähe von Moabit Bomben heruntergekommen waren, war er unverzüglich zum Judenhaus geeilt. Im Bunker mit Vogler hatte er völlig verdrängt, dass bei einem Angriff die Gefahr bestand, dass auch seine winzige Bude Schaden nehmen konnte. Wie üblich hatte er zuerst an Lisa gedacht und daran, dass sie zum Glück heute bereits wieder zur Arbeit gegangen war und dort bestimmt einen Platz im Bunker bekommen hatte.
Als Oppenheimer in seinem Kiez über die Stein- und Glassplitter stolperte, sah er, dass es die Straßenzüge diesmal wirklich schlimm erwischt hatte. Bei jedem Schritt ertönte ein schabendes Geräusch. Er gab seinen Schuhsohlen nicht mehr lange, bis sie endgültig aufrissen. In dem Chaos aus Trümmern, Menschenleibern und Maschinen, das sich Oppenheimer darbot, herrschte trotz allem eine gewisse Ordnung, weil die größte Anspannung schon vorüber war. Die Eimerketten zum Löschen der Brandherde hatten sich bereits aufgelöst. Einige Menschen verharrten in den Winkeln der Häuser oder in den Kellereingängen, blind von dem beißenden Staub und Ruß. Eine Rotkreuzhelferin mit wehendem schwarzem Umhang und weißer Haube sammelte mit zwei BDM-Mädchen die letzten Sehbehinderten ein, um sie zum fahrbaren Lazarett zu führen, wo ihnen die Augen ausgewaschen werden konnten.
Der Staub in der Luft brachte auch Oppenheimers Augen zum Tränen, obwohl seit dem Angriff bereits einige Stunden vergangen waren. Irgendwo strömte Gas aus undichten Leitungen und verpestete die Luft. Dies gehörte zu den üblichen Problemen nach einer Bombardierung. Oppenheimer hoffte nur, dass jetzt niemand auf die Idee kam, eine Zigarette zu rauchen.
Beim ersten Bombentreffer hatten sich die Berliner noch um die Ruine geschart, um betroffen zu gaffen. Damals bestaunten sie eine Explosion als etwas Neues, absolut Unerhörtes, doch mittlerweile hatte sich diese Novität verbraucht. Da Nachtangriffe längst zur Normalität gehörten, berichteten die Zeitungen nur noch über die Tagesangriffe, meistens in wenigen Zeilen, in denen es lakonisch hieß, dass »die Bevölkerung Verluste erlitten« habe.
Die Luftangriffe waren zum Alltag geworden, mit dem Alltag kam die Routine. Das Bergungsgut, das die Ausgebombten hatten retten können – Möbel und Kleinkram –, stand vor den
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