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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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diesem Gedanken wurde ihm klar, in welche Gefahr er geraten war, als er Vogler Vorwürfe gemacht, ihm gar ein Ultimatum gestellt hatte. Der SS-Hauptsturmführer hatte Oppenheimers Leben in der Hand, konnte ihn ohne weiteres auslöschen, je nach Lust und Laune. Es ließ sich nicht vorhersagen, wann dies der Fall sein würde. Es reichte vielleicht schon, wenn Vogler sich beleidigt oder gelangweilt fühlte. Niemand würde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Illusion, eine Untersuchung zu führen, hatte Oppenheimer unvorsichtig gemacht. Doch es war bereits zu spät, um das Gesagte zurückzunehmen.

10
    Samstag, 20. Mai 1944 – Sonntag, 21. Mai 1944
    O ppenheimer, ich befürchte, dass ich Ihre Fähigkeiten nicht richtig eingeschätzt habe«, sagte Vogler statt einer Begrüßung. Am nächsten Tag hatte Hoffmann Oppenheimer zur gewohnten Zeit nach Zehlendorf gefahren. Diesmal war er noch ein wenig schneller gewesen, da der Verkehr am Samstagvormittag nicht so dicht war. Als Oppenheimer ins Wohnzimmer trat, lagen auf dem Tisch bereits zwei Papierstapel. Eine ungute Vorahnung erfasste ihn.
    »Es war dumm von mir, Sie nicht bereits früher in alles einzuweihen«, fuhr Vogler fort. »Dennoch musste ich zunächst überprüfen, ob Sie den hohen Ansprüchen genügen, die ich an diese Untersuchung stelle. Und wie ich gesehen habe, waren Sie dank Ihrer Intuition auf der richtigen Fährte, obwohl Ihnen nicht alle Fakten bekannt waren. Sie hatten recht, als Sie die Wunden sahen und vermuteten, dass der Täter genau weiß, was er tut. Dass er eine gewisse Routine hat. Es war nicht das erste Mal, dass er zugeschlagen hat. Vor Inge Friedrichsen hat er mindestens zwei weitere Frauen auf diese Weise umgebracht.«
    Oppenheimer musste sich setzen. Er spürte nicht das weiche Polster, in das er versank, er bemerkte nicht einmal, dass er seinen Mantel und Hut anbehalten hatte. Das Einzige, was in sein Bewusstsein vordrang, war die bittere Erkenntnis, sich nicht getäuscht zu haben.
    »Und weiter?«, brachte er tonlos hervor.
    »Julie Dufour und Christina Gerdeler.« Vogler machte eine kurze Pause, um die Namen wirken zu lassen. »Das waren seine anderen beiden Opfer. Auf dem Tisch liegen die kompletten Untersuchungsberichte mit Photographien, Zeugenaussagen und allem Weiteren. Sie haben volle Einsicht.«
    Plötzlich kam wieder Leben in Oppenheimer. Er setzte sich auf die vordere Kante des Sitzes und unterbrach Vogler. »Moment, gehen wir chronologisch vor. Von welchem Zeitraum sprechen wir?«
    »Christina Gerdeler wurde im August 1943 ermordet. Julie Dufour dieses Jahr im Februar.«
    »Das geht also schon seit neun Monaten?«
    »Wir von der SS wurden erst nach der Entdeckung von Fräulein Dufour hinzugezogen. Ihr« – Vogler zögerte kurz – »ihr Arbeitgeber, SS-Gruppenführer Reithermann, hat uns eingeschaltet. Später erfuhren wir vom Fall Gerdeler. Es war mehr aus Zufall. Wir recherchierten im Hotel Adlon, als uns von einem ähnlichen Fall berichtet wurde, der schon mehrere Monate zurücklag. Ich befürchte, dass die Ermittlungsbehörden diesen Fall damals nicht gerade sorgfältig untersucht haben. Sowohl Fräulein Gerdeler als auch Fräulein Dufour verkehrten dort regelmäßig. Einige Hinweise deuteten darauf hin, dass die Fälle zusammenhängen. Seit Fräulein Friedrichsens Tod haben wir Gewissheit.«
    Es ging wieder los. Oppenheimer fühlte sich eigenartig matt. Erneut jagte er einem Verrückten hinterher, der reihenweise Menschen umbrachte. Als ob seine Erfahrungen mit Großmann nicht genug gewesen wären. Wieder trieb eine Kreatur ohne Mitleid in Berlin ihr Unwesen, und niemand konnte vorausahnen, in welchem Alptraum dies enden würde. Vor dem Fenster sah Oppenheimer einige Sonnenstrahlen, die durch die Tannen fielen, doch für ihn war es alles andere als ein guter Tag. Er überlegte, was Hilde in dieser Situation sagen würde.
    »Verdammte Kacke.«
    Vogler sah ihn überrascht an. Oppenheimer kam zu dem Schluss, dass er Hildes Worte wohl nicht nur gedacht, sondern laut ausgesprochen hatte. Doch es gab nichts zu beschönigen. »Verdammte Kacke«, wiederholte er noch einmal bekräftigend, zog seinen Mantel aus, warf den Hut in die gegenüberliegende Zimmerecke und machte sich an die Arbeit.

    Man hätte sich darüber streiten können, ob das erste Opfer, Christina Gerdeler, einfach nur eine mannstolle Person war oder aus Berechnung mehrere Beziehungen zu wohlhabenden Männern mittleren Alters pflegte. Zumindest Oppenheimer

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