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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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hegte den starken Verdacht, dass sie es in erster Linie auf die finanziellen Annehmlichkeiten abgesehen hatte, die solche sexuellen Beziehungen mit sich brachten. Ihr Sparkonto sprach Bände. Regelmäßig waren dort hohe Beträge in bar eingezahlt worden. Zwischen ihren Unterlagen befand sich auch ein abgegriffenes Schulheft, in dem sie penibel ihre Ausgaben und Einnahmen notiert hatte. Christina Gerdeler, gerade einmal Ende zwanzig, bewohnte ein Zimmer in der Stadtmitte, das sie sich mit einer zweiten Mieterin teilte. Das meiste Geld gab sie für elegante Kleidung aus, was wohl die unvermeidlichen Unkosten für eine Abenteurerin ihres Schlages waren. Sie war ein häufig gesehener Gast im Hotel Adlon, das für die Angehörigen der besseren Kreise eine Art Oase war, während ringsherum der Bombenkrieg tobte. Jeder, der etwas auf sich hielt, achtete darauf, mindestens ein Mal am Tag dort vorbeizuschauen, um gepflegt zu speisen, wichtige Informationen auszutauschen oder auch, um ein gelegentliches Abenteuer mit willigen und kultivierten Damen wie Fräulein Gerdeler zu erleben, die in dem Nobelhotel auf Männerfang gingen. Und daran, dass Fräulein Gerdeler kultiviert war, ließ die kleine, aber exquisite Sammlung deutscher Literatur, die man neben all den mondänen Kleidern gefunden hatte, keinen Zweifel aufkommen.
    Oppenheimer studierte die drei Photos, die sich ebenfalls in der Akte befanden. Fräulein Gerdeler hatte sie offenbar bei einem professionellen Photographen in Auftrag gegeben, um bei den Herren für sich Reklame zu machen. Das erste Photo zeigte sie im Halbprofil mit Frack und Zylinder. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht, ihre Augenbrauen waren abrasiert und wurden durch zwei aufgeschminkte dünne Striche ersetzt. Der Photograph hatte gute Arbeit geleistet. Das Bild unterstrich das hübsche Äußere des Modells und war mit seinen interessanten Hell-dunkel-Kontrasten künstlerisch äußerst ansprechend gestaltet. War das Photo einer Frau in Männerkleidung noch relativ gewagt, so kam Christina Gerdeler dem Ideal der Partei auf der zweiten Photographie zumindest optisch wesentlich näher. In einem Trachtenkostüm saß sie, mit geflochtenen Zöpfen, lachend auf einem Baumstamm. Oppenheimer hatte keine Ahnung, welche Art von Tracht sie da trug, doch es blieb kein Zweifel, dass sie auf jeden Fall Fräulein Gerdelers pralles Dekolleté wirkungsvoll unterstrich, womit man den Hauptzweck wohl als erfüllt betrachten konnte.
    Im Gegensatz zu diesem Bild bezweifelte er jedoch, dass die dritte Photographie von Fräulein Gerdeler allzu offen vor den Augen der Welt präsentiert wurde. Auf ihr zeigte sie sich nackt auf einer plüschigen Chaiselongue. Während der Körper, von ihrem angewinkelten Arm gestützt, auf der verlängerten Sitzfläche ruhte, hatte sie den Kopf nach hinten gebogen, so dass ihr Haar in voller Länge zu begutachten war. Lichtreflexe verliehen den langen Haaren Glanz, Schattenpartien wurden mit einem Aufheller kombiniert, der Fräulein Gerdelers Körper eine strahlende Silhouette verlieh. Der Betrachter bekam eine gute Vorstellung von der Schwere ihrer weichen Brüste und den aufreizenden Verlockungen, die im dunklen Dreieck ihrer Schamhaare zu erahnen waren. Sicher war diese Aufnahme dazu gedacht, sie an besondere Kunden weiterzureichen. Eine effektive Werbemaßnahme, wie Oppenheimer fand.
    Dies blieben die einzigen Photographien, die in der Akte hinterlegt waren. Vom Tatort und dem Leichenfund waren anscheinend keine Aufnahmen gemacht worden, so wie man den ganzen Fall Gerdeler, Oppenheimers Meinung nach, erschreckend unprofessionell gehandhabt hatte. Ihre Leiche wurde am Sonntag, dem 8. August 1943, in der Nähe der evangelischen Dorfkirche von Alt-Marienfelde aufgefunden. Ein früher Kirchgänger auf dem Weg zur Sonntagsmesse hatte auf dem Gelände etwas Helles registriert, das sich bei näherer Inspektion nicht als Unrat, sondern als das Kleid herausstellte, das die Tote getragen hatte. Der Körper lag vor einem Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, doch ein Fremdverschulden an ihrem Tod wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Ähnlich wie im Fall Friedrichsen war Fräulein Gerdelers entblößter Unterleib dem steinernen Monument zugewandt, und die Geschlechtsteile waren entfernt worden. Der Polizeibericht konstatierte jedoch, dass sich wohl herumstreunende Hunde an der Leiche zu schaffen gemacht hätten, eine Schlussfolgerung, die den merkwürdigen Umstand

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