Germania: Roman (German Edition)
außer Acht ließ, dass nur die Genitalien der Frauenleiche verstümmelt waren.
Dass sich die Polizisten am Fundort wie blutige Anfänger aufgeführt hatten, war womöglich der Tatsache geschuldet, dass in Kriegszeiten wie diesen eine Leiche keine Seltenheit war. Dennoch konnte Oppenheimer nur noch den Kopf schütteln. Die Ermittler waren wohl in erster Linie darauf bedacht gewesen, den toten Körper so schnell wie möglich zu entfernen. Die Beweisaufnahme war eine totale Fehlanzeige. Ein hastig geschriebener Bericht, kein Polizeiphotograph, keine Zeugenbefragungen. Für Oppenheimer war diese unbegreifliche Schlamperei seiner Kollegen das reinste Trauerspiel.
Der zweite Aktenstoß beinhaltete die Unterlagen zum Fall Dufour. Die Materiallage bot hier ein völlig gegensätzliches Bild. Während Oppenheimer in den Aufzeichnungen kaum Informationen zu Julie Dufours Person fand, hatten Voglers Leute die Umstände des Leichenfundes und die Ermittlungsergebnisse vorbildlich dokumentiert. Es war fast genau sechs Monate nach dem ersten Mordfall geschehen. Am Freitag, dem 11. Februar, verschwand Fräulein Dufour während eines Tagesalarms. Ein SS-Gruppenführer namens Reithermann meldete sie daraufhin als vermisst und gab an, dass Fräulein Dufour für ihn als Fremdsprachenkorrespondentin arbeitete. Er machte seinen offensichtlich beträchtlichen Einfluss in der Partei geltend, um eine großangelegte Suche nach ihr in Gang zu setzen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurden schließlich die sterblichen Überreste von Julie Dufour an der Kreuzung Baerwaldstraße und Urbanstraße in Kreuzberg entdeckt. Die Parallelen zum dritten Mordfall waren diesmal deutlicher zu erkennen. Die strangulierte Leiche lag ebenfalls vor einem Denkmal, der verstümmelte Unterleib wies zum steinernen Monument hin. Im Gegensatz zu Christina Gerdeler befanden sich in den Gehörgängen von Fräulein Dufour zwei lange Stahlnägel, deren Spitzen in der Hirnmasse steckten, doch Oppenheimer hielt es für mehr als wahrscheinlich, dass die Polizei diesen Umstand beim ersten Opfer schlichtweg übersehen hatte.
Dass sich der Fundort nicht auf Kirchenboden befand, war nicht der einzige Unterschied zu den beiden anderen Fällen. Während bei Inge Friedrichsen und Christina Gerdeler jeweils nur der Entdecker der Leiche als Zeuge aufgelistet wurde, war hier das Problem, dass es eine wahre Flut von potenziellen Augenzeugen gab, denn Fräulein Dufour verschwand ausgerechnet am helllichten Tag im Hotel Adlon.
Oppenheimer blätterte stundenlang durch mehrere hundert Seiten von Vernehmungsprotokollen, doch er fand beim besten Willen keinen brauchbaren Hinweis. Zum letzten Mal hatte man sie zu Beginn des Tagesalarms gesehen. Während sich die Gäste des Adlon in den hauseigenen Luftschutzbunker begaben, war Julie Dufour anscheinend vor aller Augen abhandengekommen. Niemand konnte im Nachhinein genau schildern, was in der allgemeinen Aufbruchstimmung passierte, da zu diesem Zeitpunkt jeder mit sich selbst beschäftigt war. Die Angestellten wurden vernommen, die Hotelgäste, die zur fraglichen Zeit ein Zimmer gebucht hatten, und auch die Berliner Gäste, denen es zur lieben Gewohnheit geworden war, sich ab und zu im Adlon blicken zu lassen. Doch niemand konnte sich daran erinnern, wo die junge Dame zum letzten Mal gesehen worden war.
Oppenheimer grübelte über die ersten beiden Fälle nach. Es war nachvollziehbar, dass sich die Ermittler zunächst unsicher waren, ob man den Fall Gerdeler mit dem Fall Dufour in Verbindung bringen konnte. Die Dokumente zum ersten Mord waren nicht ausführlich genug. Doch Vogler hatte sich anscheinend in den Kopf gesetzt, dass die erste Tote, die man in Marienfelde gefunden hatte, ebenfalls zu der Mordreihe gehörte, und auch Oppenheimer tendierte dazu, ihm zuzustimmen. Zusammenfassend konnte man sagen, dass zumindest die auffälligen Gemeinsamkeiten des Falls Dufour mit dem Fall Friedrichsen keinen Zweifel daran ließen, dass sie zusammenhingen und dass auch der erste Mord mit hoher Wahrscheinlichkeit die Handschrift desselben Täters trug.
Oppenheimer wusste jetzt, wie er vorzugehen hatte. Die oberste Priorität bestand darin, die drei Fälle nach weiteren Parallelen zu untersuchen. Nur so konnte er das Motiv des Täters enträtseln und möglicherweise herausfinden, welcher Typ von Frau gefährdet war. Doch die auffälligste Übereinstimmung der ersten beiden Fälle war nicht eine charakterliche Eigenschaft der Opfer oder ihre
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