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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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körperlichen Merkmale, nein, es war das Hotel Adlon, bei dem die Fäden zusammenliefen.

    Im Lauf der Woche hatte es viele Neuigkeiten gegeben, die Oppenheimer auch an diesem Sonntag Hilde mitzuteilen gedachte. Nun war die Zeit gekommen, um das Ablenkungsmanöver in die Wege zu leiten, das er geplant hatte. Nach dem Mittagessen zog er eine alte Jacke über und holte den Brief hervor, den er vor ein paar Tagen von Ede erhalten hatte. In dem Kuvert lag der versprochene Haustürschlüssel samt der Adresse.
    Lisa war gerade dabei, das Geschirr zu spülen, als Oppenheimer in die Küche kam. Entsetzt blickte sie ihn an. »Aber Richard, mit der alten Jacke kannst du nicht rausgehen. Die muss ich erst noch waschen.«
    »Reine Tarnung«, erwiderte Oppenheimer. Dann schlüpfte er in seinen Regenmantel, der auch schon bessere Tage gesehen hatte.
    »Heute wird es nicht regnen«, meinte Lisa. »Du willst doch nicht etwa zu einem Lumpensammler? Das sind die einzigen Sachen, die wir noch haben!«
    »Nein, ich werde sie nicht fortgeben. Ich muss zu Hilde und will versuchen, meine Spur zu verwischen. Keine Angst, ich habe alles geplant.«
    »Hast du auch geplant, dass du wie ein Affe schwitzen wirst?«
    Oppenheimer hielt bei diesem Gedanken kurz inne. »Hm, das geht wohl nicht anders. Spätestens zum Abendessen bin ich wieder zurück.«
    Zum Abschied schüttelte Lisa den Kopf.

    Er hatte sich nicht getäuscht. Als Oppenheimer aus der Haustür trat, sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Passanten, der an einer Hauswand lehnte und Zeitung las. Sicherlich war er dazu abgestellt, ihn zu beobachten.
    Das Zimmer, zu dem Edes Schlüssel passte, lag im Beusselkiez. Oppenheimer musste nur in Richtung des S-Bahnhofs Beusselstraße marschieren und sich dann westlich halten. Die Gegend war ideal, um unterzutauchen. Ursprünglich als Unterkunft für die Arbeiter der Loewe-Fabriken errichtet, klebten dort mittlerweile unzählige Wohnungen aneinander wie die Waben eines riesigen Bienenstockes. Dementsprechend geschäftig ging es dort auch zu. Es ließ sich unmöglich abschätzen, wie viele Menschen dank der chaotischen Bautätigkeit hier in den letzten Jahrzehnten eine Bleibe gefunden hatten. Auf der Rückseite der Häuser verwandelten zahlreiche Hinterhofwohnungen das Gebiet in ein Labyrinth. Oppenheimer erinnerte sich, dass es im Beusselkiez immer wieder Schwierigkeiten mit der Polizei gegeben hatte. Die Bewohner hegten traditionell Sympathie für die Sozialdemokraten. Etliche von ihnen waren sogar radikale Kommunisten. Da auch die linken Spartakus-Gruppen sehr aktiv gewesen waren, hatte es dort mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten wiederholt Straßenkämpfe mit der SA gegeben.
    Am Ziel angekommen, ging Oppenheimer, ohne zu zögern, durch die Haustür. Im dritten Stockwerk fand er die kleine Bude, zu deren Tür der Schlüssel passte. In dem Zimmer registrierte er als Erstes, dass es zur Straßenseite hin ein Fenster gab. Abgesehen davon war der Raum nahezu kahl. Ein Ofen, dessen eisernes Rohr quer durch den Raum verlief, das Bett und eine Anrichte – mehr war nicht zu finden. Also dies war das Lager, das Ede erwähnt hatte. Von den Dingen, die der kleine Ganove hier aufzubewahren pflegte, gab es jedoch keine Spur.
    Oppenheimer zog die beiden Mäntel aus, die er die ganze Zeit über getragen hatte. Lisa hatte recht gehabt. Unter seinen Achseln hatten sich auf dem Hemd große feuchte Flecken gebildet. Er gönnte sich ein paar Minuten, um sich abzukühlen, ging vorsichtig einige Schritte in Richtung des Fensters, bis er die gegenüberliegende Straßenseite sehen konnte. Zum Glück war es draußen so hell, dass ihn in dem düsteren Zimmer niemand entdecken konnte. Wenig überraschend stand im Hauseingang direkt gegenüber wieder der Mann, der schon vor dem Judenhaus auf ihn gewartet hatte.
    Nachdem sich Oppenheimer vergewissert hatte, dass sein Verfolger allein war, zog er seine Jacke wieder an. Den Regenmantel hängte er über eine Stuhllehne. Er würde ihn erst wieder auf dem Nachhauseweg brauchen. Zum Glück konnte man das Gebäude durch eine Hintertür verlassen. Ede hatte wirklich an alles gedacht.
    Während die Straße, in der sich Oppenheimers Verfolger befand, in der Sonne lag, verirrte sich kaum ein Lichtstrahl in den engen Hinterhof des Wohnhauses. Dennoch setzte Oppenheimer die Sonnenbrille auf, die er bei sich trug. Trotz dieser kläglichen Verkleidung hoffte er, dass man ihn in der anderen Jacke und mit dunkler

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