Germania: Roman (German Edition)
wollte. Presse und Rundfunk, die Hitlers Kronprinz völlig überrumpelt hatte, reagierten hektisch. Um den Schaden zu begrenzen, wurde schließlich veröffentlicht, dass Heß ein Opfer von Wahnvorstellungen geworden sei. Doch dieser absurden Ausrede schenkten weniger Leute Glauben, als die Parteispitze gehofft hatte.
Fröhlich zitierte Oppenheimer einen Witz, der damals hinter vorgehaltener Hand die Runde gemacht hatte: »Seit Jahren geht ein Lied durchs Land: Wir fahren gegen Engeland. Doch wenn dann wirklich einer fährt, so wird er für verrückt erklärt.«
Für einen kurzen Moment übertönte Hildes Gelächter Händels Wassermusik, die aus dem Lautsprecher des Grammophons perlte. Schließlich sah Oppenheimer einen günstigen Moment, um ein heikles Thema anzuschneiden. Er versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, als er fragte: »Übrigens, wäre es möglich, demnächst noch mal ein Rezept für Pervitin zu bekommen?«
Hilde wurde ernst. »Schon wieder? Du hast vor drei Monaten schon eines gekriegt. Hast du die etwa bereits aufgebraucht?«
»Nur zur Vorsorge«, wiegelte Oppenheimer ab. Er wollte Hilde nicht auf die Nase binden, dass er in der Zwischenzeit auch schon bei Dr. Klein Tabletten besorgt hatte.
»Du weißt doch, was ich gesagt habe«, ermahnte Hilde ihn. »Pass auf, dass du nicht zu viel nimmst. Von Amphetaminen wird man schnell abhängig, vergiss das nicht. Oder was meinst du, warum man mittlerweile ein Rezept für das Zeug braucht? Ich persönlich finde es unverantwortlich, dass Pervitin überhaupt jemals frei verkäuflich war.«
»Ich dachte, es wäre vielleicht nicht schlecht, einen Vorrat zu haben«, druckste Oppenheimer herum. »Wer weiß, was noch auf uns zukommt. Lisa verkraftet die Situation nicht sonderlich gut und …« Er unterbrach sich, als er ein ungewöhnliches Geräusch hörte. »Moment. War da nicht was? Im Behandlungszimmer.«
Sie lauschten. Oppenheimer hob den Tonarm von der Schallplatte. Hilde stand auf und öffnete die Tür zu ihrer kleinen Praxis. In der Stille war deutlich zu hören, dass jemand draußen vor dem Eingang stand. Ein gequältes Stöhnen. Dann ein verzagtes Klopfen.
Hilde näherte sich vorsichtig der Pforte. Oppenheimer machte sich auf das Schlimmste gefasst und überlegte, ob er durch die kleine Wohnung laufen sollte, um durch die vordere Eingangstür zu entwischen. Eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht, da die Fenstersimse mit Büchern vollgestellt waren. Doch wenn Voglers Leute ihn bis hierher verfolgt hatten, war es ohnehin sinnlos, fliehen zu wollen. Er hatte extra nicht das Auto genommen, das ihm Vogler anvertraut hatte, es wäre zu auffällig gewesen. War er trotz allem nachlässig geworden, weil er darauf vertraut hatte, dass seine Finte mit dem Kleidertausch im Beusselkiez klappen würde?
Hilde umklammerte die Türklinke, doch sie wagte es nicht, die Tür zu öffnen. »Ist da jemand?«, fragte sie.
Als Antwort war nur ein schmerzerfülltes Heulen wie von einem verwundeten Tier zu hören. Oppenheimer und Hilde blickten sich überrascht an. Ihnen war klar, dass das hier unmöglich jemand vom Sicherheitsdienst oder von der Gestapo sein konnte. Mit einem dumpfen Schlag fiel draußen ein Körper zu Boden. Hilde riss die Tür auf.
Auf der Türschwelle lag eine zusammengekauerte Gestalt. Oppenheimer konnte über Hildes Schulter zunächst nur lange schwarze Haare sehen. Als sie sich bückte, um die Person vom Boden aufzuheben, erkannte er schließlich, dass es sich um eine junge Frau handelte. Sie presste ihre Hände auf den Unterleib. Ihr Kleid war von Blut durchtränkt.
14
Sonntag, 28. Mai 1944 – Mittwoch, 31. Mai 1944
S chnell, auf die Liege mit ihr«, befahl Hilde. Zusammen brachten sie die junge Frau in die hintere Ecke des Zimmers. Während Oppenheimer sie stützte, breitete Hilde ein Tuch auf der Liege aus. Dann legten sie das Mädchen so sanft wie möglich darauf.
»Wenn du dich nützlich machen willst, dann wisch das Blut vom Boden«, sagte Hilde. »Insbesondere draußen vor der Eingangstür. Und setze Wasser auf. Ich brauche so schnell wie möglich kochendes Wasser!«
Oppenheimer war keine große Hilfe. Nachdem er umständlich den Boden geputzt und das Wasser gebracht hatte, wartete er im Wohnzimmer, während Hilde die junge Frau medizinisch versorgte. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie wieder auftauchte und ihn bat, die Patientin nach oben zu bringen, um sie in ihr Bett zu legen. Oppenheimer war so
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