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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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sich von Hoffmann direkt beim Bahnhof Friedrichstraße absetzen. In luftiger Höhe liefen die Schienenstränge auf Viadukten dem Gebäude entgegen, einem großen Tonnengewölbe, das sich über die Bahngleise spannte. Oppenheimer stieg jedoch nicht hinauf zu den Bahnsteigen, sondern folgte den Treppen nach unten zu den U- und S-Bahnen. Im Laufe der Jahre war der Bahnhof zu einem labyrinthischen System aus unterirdischen Gängen ausgebaut worden. Es war ideal, um Hoffmann abzuschütteln, falls er Oppenheimer beschatten sollte. Doch schon nach wenigen Metern hatte er sich vergewissert, dass sein Fahrer offensichtlich keinen Grund sah, ihn zu verfolgen.
    Als er durch die gelbgefliesten Gänge schritt, fiel ihm auf, wie sehr sich der Bahnhof in den letzten Jahren verändert hatte. Hier unten schienen sich Menschen aus aller Herren Länder zu treffen. Oppenheimer hatte gehört, dass es in Deutschland mittlerweile eine große Zahl von Fremdarbeitern gab, die mit dem blauen Quadrat mit aufgesticktem »F« gekennzeichnet waren, mehrere Millionen, die gelegentlich sogar als Trojanisches Pferd des heutigen Krieges bezeichnet wurden. So mancher Volksgenosse fühlte sich verunsichert und faselte von einer Überfremdung der Gesellschaft. Doch zu viele Männer waren an der Front. Ohne diese zusätzlichen Arbeitskräfte würde das Großdeutsche Reich nicht mehr funktionieren.
    Die Ansammlung fremder Nationalitäten in den Katakomben des Bahnhofs überwältigte Oppenheimer. Er hatte nicht geglaubt, dass in diesem Staat, der sich derart nationalistisch gab, so etwas möglich wäre. Es war eine freudige Überraschung, ein wohltuender Kontrast zu der tumben Deutschtümelei der Partei. Schon bald verlangsamte er seine Schritte, um die Menschen zu beobachten. Eine Dame warf Oppenheimer einen aufreizenden Blick zu, während sie mit ihrer Begleiterin auf Französisch parlierte. In der nächsten Ecke sah er eine Gruppe von Italienern, die in zerlumpten Mänteln steckten und wild gestikulierend Handel zu treiben schienen. Ein Ostarbeiter wandte sich von Oppenheimer ab, um ihn weiterhin misstrauisch über die Schulter anzublicken. Mit einem Schmunzeln dachte Oppenheimer daran, dass sie den wohl besten Ort für ihre Treffen gewählt hatten. Schließlich galt das Kellergeschoss des Bahnhofs als bombensicher.
    Als Oppenheimer die Wohnung fand, in der Fräulein Gerdeler zusammen mit Lizzi Ebner gewohnt hatte, erwartete ihn eine Enttäuschung. Eine neue Zimmergenossin öffnete die Tür und teilte mit, dass Fräulein Ebner gerade ihren Dienst in einem Rüstungsbetrieb absolvierte. Sie würde erst in den späten Abendstunden wieder zurückkehren, da sie Schichtdienst hatte. Am nächsten Dienstag hätte sie jedoch ihren freien Tag, er solle es dann noch mal bei ihr versuchen.
    Oppenheimer lief niedergeschlagen zum Bahnhof zurück. Er fand sich nur schwer damit ab, dass er nichts weiter tun konnte, als abzuwarten, bis der Täter wieder zuschlug. Der Gedanke, dass dies bislang immer an Wochenenden geschehen war, machte ihn unruhig. Schließlich war heute schon Freitag, der Tag, an dem nachweislich Fräulein Dufour und Inge Friedrichsen verschwunden waren. Er konnte nur hoffen, dass die nächsten beiden Tage ohne schlechte Nachricht vorübergingen.

16
    Sonntag, 4. Juni 1944 – Mittwoch, 7. Juni 1944
    B illhardt wirkte ehrlich verblüfft. »Wo kommst du denn her?«, wollte er wissen und stellte den Rechen ab, mit dem er den Boden geharkt hatte. Obwohl der Himmel wolkenverhangen war, glänzte die Kopfhaut unter seinem schütteren Haar. Billhardt hatte immer den Standpunkt vertreten, dass er eine Denkerstirn habe, und allem Anschein nach hatte diese seit ihrer letzten Begegnung weitere Zentimeter hinzugewonnen. Doch auch sonst hatte sich sein alter Kollege verändert. Ihm fehlte ein Arm. Oppenheimer versuchte, seine Bestürzung darüber nicht allzu offen zu zeigen.
    »Unkraut vergeht nicht«, antwortete Oppenheimer. Es war eine abgedroschene Phrase, doch da sie sich hier in einer Laubenkolonie befanden, schien diese Antwort irgendwie passend. »Ich habe dich gesucht. Ein Glück, dass ich mich noch daran erinnern konnte, wo dein Garten ist.«
    »Worum geht es?«
    »Es geht um eine Ermittlung, bei der ich beratend tätig bin. Nicht offiziell natürlich.«
    Billhardt blieb einen Augenblick lang der Mund offen stehen. Dann kam er näher und blickte sich misstrauisch um. »Ich dachte, du bist … du weißt schon.« Er nickte zu einem Schild hin, das einige

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