Germania: Roman (German Edition)
Fliegeralarm gegeben, weil bei Mondlicht das Entdeckungsrisiko viel größer war. Mittlerweile schienen sich die Strategen der Royal Air Force kaum noch darum zu kümmern.
Oppenheimer hatte noch etliche Meter zu gehen. Wenn er von der U-Bahn-Station Schlesisches Tor immer an der Spree entlanglief, musste er früher oder später zu Billhardts Wohnung in der Nähe des Treptower Parks gelangen. Als abzusehen war, dass das schlechte Wetter anhalten würde, hatte Oppenheimer beschlossen, seinen alten Kollegen bereits am heutigen Samstag in dessen Wohnung aufzusuchen. Er hatte wenig Lust, sich am nächsten Tag mit ihm in seine feuchte Laube zu quetschen, um sich vertraulich unterhalten zu können.
Dummerweise hatte er nicht daran gedacht, einen zweiten Regenschirm zu organisieren, um seine Verfolger zu verwirren. Er bemerkte dies erst, als er sich bereits in der kleinen Wohnung im Beusselkiez verkleidet hatte. Seinen Regenschirm konnte er schlecht zu Billhardt mitnehmen, dann würde seine Tarnung sofort auffliegen. Also war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich, lediglich von seinem Hut beschützt, dem Wetter auszusetzen. Schon nach wenigen Minuten war das Wasser von der Hutkrempe in Oppenheimers Kragen gelaufen. Als er trübselig um die großen Pfützen herumstapfte, musste er daran denken, wie sehr er dieses ganze Wasser doch hasste.
Seit der Nachricht am 6. Juni über die Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie waren nur wenige Neuigkeiten an die Öffentlichkeit gelangt. Am Tag der Invasion hatte es tatsächlich noch eine neue Ausgabe der Tageszeitungen gegeben. INVASIONSBEGINN: SOFORTIGER GEGENSCHLAG, titelte die Berliner Börsen-Zeitung, darunter der Zusatz: WIR KÄMPFEN FÜR EUROPA. Die Berichte von den Kampfhandlungen beinhalteten im Wesentlichen die vorgeschriebene Jubelpropaganda, die angesichts dieser ernsten Lage lediglich ein wenig dezenter formuliert war.
Hitler hatte vor wenigen Wochen noch damit geprahlt, eine feindliche Attacke innerhalb von neun Stunden zurückschlagen zu können, doch am Tag der Invasion war von diesem Versprechen nicht mehr viel zu hören. Oppenheimer hatte sogar im Völkischen Beobachter geblättert, um an neue Informationen zu kommen, doch die Hauspostille der NSDAP schwadronierte nur von einem heimtückischen Überfall auf Europa und verbreitete das Gerücht, dass Stalin Moskaus Vasallen dazu gedrängt habe, wider besseres Wissen anzugreifen. Tags darauf wurde lediglich über schwere Verluste bei den Feinden berichtet.
Nach dem ersten Schock war es in der Stadt wieder verhältnismäßig ruhig geworden. Allerdings sah Oppenheimer nur noch wenige Parteiabzeichen auf den Revers der Passanten. Hin und wieder hörte er jedoch, wie manche von einer Vergeltungsaktion schwafelten, die der Führer ihrer Meinung nach sicher schon geplant hatte. Vogler und der Funker schauten in den nächsten Tagen recht beklommen drein, was Oppenheimer als gutes Omen für die Alliierten interpretierte. Doch in der Normandie war jetzt ebenfalls schlechtes Wetter, was gut für die Wehrmacht war, da die feindliche Luftwaffe unter diesen Bedingungen nur eingeschränkt einsetzbar war. Soweit Oppenheimer die Lage beurteilen konnte, schienen die Engländer und Amerikaner derzeit nicht vorwärtszukommen.
Ähnlich wie die Alliierten war Oppenheimer bei der Untersuchung in den vergangenen Tagen nicht weitergekommen. Zumindest hatte er Hauptsturmführer Vogler davon überzeugen können, die Initiative zu übernehmen und alle SS-Mitglieder davor zu warnen, dass ihre weiblichen Bekanntschaften und Mitarbeiter möglicherweise von einem Mörder bedroht wurden. Eigentlich wollte Oppenheimer die Warnung auch gleich allen stadtbekannten Bordellen zukommen lassen, doch Vogler weigerte sich vehement, da die Ermittlung schließlich als geheim eingestuft war.
Normalerweise bekam man auf solche Warnungen hin zahlreiche Hinweise, doch die Mitglieder der SS besaßen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung einen deutlich geringeren Mitteilungsdrang. Vielleicht fühlten sie sich einfach zu sicher, um die Warnung ernst zu nehmen. Nur einen einzigen mageren Tipp hatten sie bislang bekommen, der sich jedoch als völlig aus der Luft gegriffen herausstellte, da die vermisste Dame die Nacht volltrunken bei irgendeinem Mann verbracht hatte. Nachdem Voglers Leute die Umstände geklärt hatten, folgte das übliche Eifersuchtsdrama. Oppenheimer fand diese Episode alles andere als amüsant, da ihm schmerzhaft bewusst
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