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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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trotzdem das ganze Dorf hinter den geschlossenen Fensterläden im Schlafe lag. Seither irrte sie herum, vom geringsten Geräusch erschreckt, zitternd vor Angst, daß man sie ergreifen und als Landstreicherin nach Marchiennes in jenes öffentliche Haus bringen könne, dessen Gespenst ihr seit Monaten drohte. Zweimal war sie in die Nähe der Voreuxgrube gekommen und, erschreckt durch die lauten Stimmen des Militärpostens, wieder atemlos davongelaufen, wobei sie sich mehrmals umsah, ob man sie nicht verfolge. Das Réquillartgäßchen war immer voll Betrunkener; sie kehrte dennoch dahin zurück in der unbestimmten Hoffnung, dort den zu treffen, den sie einige Stunden früher abgewiesen hatte.
    Chaval sollte diesen Morgen anfahren, und dieser Gedanke führte Katharina wieder zur Grube zurück, wenngleich sie fühlte, daß es nutzlos sei, mit ihm zu reden. Zwischen ihnen war alles aus. In Jean-Bart ward nicht mehr gearbeitet, und er hatte geschworen, sie zu erwürgen, wenn sie wieder im Voreux Arbeit nehme, wo er durch sie bloßgestellt zu werden fürchtete. Was sollte sie anfangen? Anderswohin gehen, Hunger leiden, den Roheiten aller Männer unterliegen, denen sie begegnen würde? Mit todmüden Beinen schleppte sie sich in den Pfützen der Straße fort, beschmutzt bis an den halben Rücken. Das Tauwetter hatte die Straßen in Ströme von Morast verwandelt; sie drohte darin zu versinken, wankte aber dennoch immer weiter, immer weiter, und wagte nicht, einen Stein zu suchen, um darauf einen Augenblick auszuruhen.
    Der Tag brach an. Katharina hatte eben den Rücken Chavals erkannt, der vorsichtig den Umweg um den Hügel machte, als sie Lydia und Bebert wahrnahm, die ihre Nasen aus ihrem Versteck unter dem Holzvorrat hervorsteckten. Sie hatten daselbst die ganze Nacht auf der Lauer gelegen und nicht gewagt heimzukehren, weil Johannes ihnen befohlen hatte, ihn zu erwarten; während dieser in der Réquillartgrube seinen Mordrausch ausschlief, hatten die beiden Kinder sich mit den Armen umschlungen, um weniger zu frieren. Der Wind pfiff zwischen den Stangen von Kastanien- und Eichenholz; sie verkrochen sich wie in einer verlassenen Köhlerhütte. Lydia wagte nicht, laut ihre Leiden eines geprügelten Liebchens zu erzählen, und auch Bebert fand nicht den Mut, sich über die Maulschellen des »Führers« zu beklagen, von denen seine Backen schwollen; aber schließlich mißbrauchte dieser gar zu sehr seine Macht, indem er sie zwang, in tollkühnen Raubzügen ihre Knochen zu riskieren, und nachher sich weigerte, mit ihnen zu teilen. Ihr Herz empörte sich, und sie küßten sich schließlich trotz des Verbotes auf die Gefahr hin, von dem Unsichtbaren Maulschellen zu erhalten, wie er ihnen gedroht hatte. Als die Maulschelle nicht kam, fuhren sie fort, sich herzlich zu küssen, ohne an etwas anderes zu denken, in diese Liebkosung ihre ganze, so lange Zeit unterdrückte Leidenschaft, ihr ganzes Martyrium und ihre ganze Zärtlichkeit legend. So hatten sie die ganze Nacht hindurch sich erwärmt, glücklich in diesem weltverlorenen Loche, daß sie sich nicht erinnerten, selbst am Sankt-Barbara-Feste glücklicher gewesen zu sein, an dem man Törtchen aß und Wein trank.
    Plötzlich ertönende Hornstöße ließen Katharina erschreckt zusammenfahren. Sie richtete sich in die Höhe und sah den Militärposten vom Voreux Gewehr in Arm antreten. Etienne eilte herbei; Bebert und Lydia sprangen mit einem Satze aus ihrem Versteck hervor. Dort hinten stieg im wachsenden Tageslichte unter zornigen Gebärden eine Schar Männer und Weiber vom Dorfe hernieder.
     

Fünftes Kapitel
    Alle Zugänge zum Voreux waren geschlossen worden; die sechzig Soldaten -- Gewehr bei Fuß -- besetzten die einzige frei gebliebene Tür, die zum Aufnahmesaale führte, über eine schmale Treppe, auf die das Aufseherzimmer sich öffnete. Der Kapitän hatte sie in zwei Reihen an der Ziegelwand des Gebäudes aufgestellt, damit man sie nicht von hinten angreifen könne.
    Die aus dem Dorfe herabgestiegene Bergmannschar hielt sich anfänglich fern. Es waren ihrer höchstens dreißig, und sie besprachen sich in heftigen und verworrenen Worten.
    Die Maheu, die zuerst angekommen war, ungekämmt, mit einem in aller Hast über den Kopf geworfenen Schnupftuche, die schlafende Estelle im Arme, wiederholte mit fieberhafter Stimme:
    »Niemand hinein und niemand heraus! Wir müssen sie da drinnen fassen!«
    Ihr Mann stimmte zu. Da kam Mouque von Réquillart her. Man wollte ihn hindern

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