Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
Zucken wandelt. Die Damen sind im Jahrgang bei gutem Bordeaux angelangt, doch weniger gut gereift. Aller Tand, Putz und Glitzer hilft über diese Hürde nicht hinweg; die zu dick aufgetragene Schminke lässt die Frauen eher wie die Bewohner eines anderen Planeten aussehen. Eine der vier hat einen Festtag zu begehen. Auf einem Nebentisch stehen zwei große und ein kleiner Blumenstrauß. Die großen Sträuße sichtlich mit Herz und Liebe ausgesucht, der kleine hingegen verrät, dass er schnell aus dem »Angebotseimer« gezogen wurde, damit man »was in der Hand« hat, nicht mit leeren Händen kommt. Das Geschnatter und Gekicher voller Künstlichkeit und Wichtigtuerei. Jeder Satz manieriert, jeder will besser und klüger erscheinen als der vorausgegangene, jede will die anderen übertreffen. Sie beschwören beständig, welch gute Freundinnen sie doch seien und wie froh sie sind, heute mit der »besonders lieben Freundin« feiern zu können. Dabei haben die drei Eingeladenen nur einen Gedanken: Hoffentlich bezahlt sie auch die Rechnung.
Nachdem meine beiden Herren alles genau inspiziert haben, zu dem Entschluss gekommen sind, dass jede weitere visuelle Investition vergeudete Zeit sei, setzen sie sich umständlich zu Tisch. Der Gast links, der Gastgeber rechts. Nun geht es los: »Herr Nährig«, sagt der weißhaarige Jürgen, »zuerst erzählen Sie uns bitte einen Witz«, wobei er schon vorher lacht. »Aber etwas gewürzt bitte.« Der Abend scheint mir allerdings noch zu jung zum Witze-Erzählen. »Der Weise schweigt bis zur rechten Zeit, der Tor aber achtet nicht auf die rechte Zeit« (Jesus Sirach 20,7).
Bei neun von zehn Besuchen bestellt Jürgen Engler dasselbe: Hummercocktail und danach Seezunge gegrillt mit Blattspinat und einer kleinen Kartoffel. »Was empfehlen Sie uns heute?«, fragt er. »Oh!«, antworte ich und skandiere volksschullehrerhaft: »Heute …« Nach einer bedeutungsschwangeren Kunstpause setze ich neu an: »Heute empfehle ich Cocktail vom norwegischem Hummer«, worauf Jürgen mich sogleich mit einem »Ja, das ist was ganz besonders Neues« unterbricht, dem ein herzhaftes In-sich-Hineinlachen folgt. »Als Hauptgericht …«, doziere ich weiter, »als Hauptgericht serviere ich Ihnen heute eine schöne, schmackhafte Nordsee-Seezunge vom Grill.« Der Gastgeber lacht aus voller Brust, hüpft beinahe aus dem Stuhl und ruft: »Nein, damit haben wir nun gar nicht gerechnet, das ist ja etwas ganz Außergewöhnliches, um nicht zu sagen epochal.« Die rheinische Frohnatur kichert ebenso vor sich hin und sagt: »Wenn Sie uns jetzt noch Vanille-Eis zum Nachtisch empfehlen, dann bekommen Sie von mir den ›Orden wider den tierischen Ernst‹ verliehen.«
Das Mittagessen nimmt seinen üblichen Lauf. Der Rheinländer vertilgt tutto completto , Herr Engler nimmt von den jeweiligen Gerichten nur homöopathische Mengen. Alles ist gut, es kommen keine Beschwerden. Zum Mokka will ich noch ein kleines Petit Four anbieten, das aufs Haus gehen soll; Engler lehnt ab, indem er das von uns beiden geschätzte biblische Buch Jesus Sirach zitiert: »Versuche nicht, ihn zu bestechen, denn er nimmt nichts an.«
Jetzt geht es noch in die Hotelbar, um die unvermeidliche Zigarre und, wie Jürgen zu sagen pflegt, »eine Alte Pflaume zur Verdauung« zu genießen, ehe er sich zu Hause auf dem Diwan ein wenig »rekreiere«. Das verschmitzte Lächeln und das Strahlen der himmelblauen Knopfaugen zeugen von Zufriedenheit und von spitzbübischer, liebenswerter Kauzigkeit.
Ein Grund, warum zwischen uns die Chemie so gut stimmt, ist sicher auch, dass wir beide praktizierende Katholiken sind. Wie viele Male habe ich mir die beiden kleinen Kreuze, die in der linken Sakkoinnentasche seines dunkelblauen zweireihigen Anzugs stecken, zeigen und die dazugehörige Geschichte erzählen lassen. Ein Moment, der mich immer wieder in der tiefsten Seele berührt hat. Mit leicht vergeistigter Miene greift er langsam in die Brusttasche, erfühlt die beiden Kreuze, erhebt sich vom Stuhl, um sie mir sodann mit einem Blick voll feierlichem Ernst darzubieten, der mir zu verstehen gibt: »Schätze diesen Augenblick, denn nicht jeder bekommt sie zu sehen.« Diese kleinen Kreuze haben im Laufe der Jahre schon beträchtliche Blessuren erlitten. Bei einem hat sich an verschiedenen Stellen der Perlmuttbeschlag gelöst, beim anderen ist der aus Edelmetall getriebene Christus aus seinen Nägeln herausgebrochen, so dass er mit Klebeband »nachgekreuzigt« werden
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