Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
musste. Auch an den Kleeblättern, welche die Enden der Kruzifixe verzieren, findet sich die eine oder andere Delle. Der ihnen innewohnenden Kraft tut all dies natürlich keinen Abbruch. Wenn Jürgen Engler voller Ehrfurcht über seine Kreuze spricht, eröffnet sich ihr tiefer Sinn, und man begreift, warum sie ihm so wichtig sind. Ohne diese Kreuze, berichtete er mir, könne er nicht essen, nicht trinken (was einer Katastrophe gleichkommt), nicht schlafen, nach nirgendwo mit dem Auto fahren. Es sind seine Lebens- und Überlebenskreuze, ohne die er dem Leben im Grunde nichts abgewinnen kann. Manchmal sogar ein Gebetsersatz.
Außer unserem Katholizismus vereint uns noch eine weitere Gemeinsamkeit: Wir sind beide ursprünglich Bauern; stammen aus Bauernfamilien. Das Angebot Englers, ihn auf seinem Hof zu besuchen, um mir allerlei Getier, wie Ochsen, Kühe, Schweine, Hühner bis hin zu den Stubenfliegen und weiß der Teufel was noch allem, zeigen zu lassen, war für mich ein besonderer Vertrauensbeweis. Ich bin diesem Angebot gerne nachgekommen und habe auch die ehrliche Herzlichkeit der überaus charmanten Hausfrau sehr genossen.
Der oft leider etwas belächelte Berufsstand des Landwirtes kann, so meine ich, mit Fug und Recht als der Nabel der Welt bezeichnet werden. Was würde die vermaledeite Menschheit ohne den Bauern, der uns die Grundlagen für all die Speisen liefert, die dann Hausfrau oder Kellner auf den Tisch stellen, wohl tun?! Zum Kaufmann gehen?
Die Pastorale
Wie oben bereits angeführt: »Wer aus einer guten Kinderstube in die Welt hinaustritt, der hat es leichter in der Welt.« Wenn ich an Prinz Asserate und seinen Satz »Alle Manieren beginnen im Familienkreis« zurückdenke, kommt mir unwillkürlich eine Begegnung Ende der neunziger Jahre im Hotel in den Sinn: ein junger Mann, etwa zwanzig, blond, akkurat gescheiteltes Haar, offener Blick, beste Manieren. Ist in solchen Jugendjahren nicht vorausgesetzt. Er wollte, zu besonderem Anlass, ein Abendessen für zwei Personen mit anschließender Übernachtung bestellen. Ein Geschenk: Die Eltern haben Silberhochzeit. Alle Achtung, denke ich, entweder ist der Jüngling aus besonders wohlhabendem Haus oder er hat ein übervolles Herz, möchte den Eltern einfach großzügig danken.
Sein Gehabe wirkt meiner Erfahrung und meinem Dafürhalten nach ein wenig aufgesetzt und attitüdenhaft, aber das ist vielleicht nur jugendliche Unsicherheit. Ich lasse das Zimmer reservieren und suche für das Abendessen der Eltern einen Tisch im Grill aus. Bei der Erledigung der Formalitäten erfahre ich, dass der junge Mann Philipp-Sebastian Kühn heißt und aus den neuen Bundesländern stammt. Der Vater ein rechtschaffener, einfacher Bürger der DDR. Dennoch, oder gerade darum, hatte Philipp-Sebastian offensichtlich eine beachtliche Kinderstube genossen. Angenehm!
Er zahlt alle Rechnungen im Voraus und setzt sich, um zu überlegen, ob auch nichts vergessen wurde, auf einen Drink in die Hotelhalle. Es ist Cocktailstunde. Wir haben Ende Mai. Blauer Himmel. Strahlende Abendsonne. Das Gemäuer am gegenüberliegenden Ballindamm schimmert golden. Segelboote auf der Alster. Ein Biedermeier-Genrebild, wie es mein Landsmann Ferdinand Georg Waldmüller nicht besser hätte malen können.
»Es ist außergewöhnlich schön hier«, sagt er. »Ja«, antworte ich ein wenig ironisch. »Jetzt fehlt nur noch Beethovens Pastorale.« Da schaut er mich erstaunt an und meint: »Dass Sie gerade das sagen – ich beschäftige mich seit einiger Zeit speziell mit seiner sechsten Symphonie.« In meiner eigenen Jugendzeit bin ich den beethovenschen Symphonien ebenso verfallen gewesen wie er jetzt. Und so entspinnt sich ein längeres Gespräch über Beethoven und seine Musik. Speziell die Sechste.
Diese Begegnung war die Basis für eine nun schon über zehn Jahre anhaltende Freundschaft. Wir sehen uns in regelmäßigen Abständen und mit großem gegenseitigen Interesse. Kleiner Beigeschmack der Geschichte: Er ist SPD-Politiker geworden und lebt doch CDU im großen Stil – wie die meisten Gäste des Vier Jahreszeiten. Aber das kommt vor, würde Prinz Asserate sagen. Wann und wo finden wir unsere Ideale? Wir suchen ein Leben lang …
Mein schottisches Intermezzo
»Herr Ober«, ruft eine etwas rauchige Stimme mit dezent britischem Akzent, »ich brauche Ihre Hilfe.« Die Stimme gehört zu einer Dame, die soeben in den Grill geschritten kommt. »Herr Ober, ich habe für morgen Abend dreißig Gäste
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