Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
Stillen: »Im schnellen Porsche könnte ich nicht alles betrachten und mir die Leute angucken, wie sie, oft hübsch, oft hässlich, oft komisch, an mir vorbeiziehen. Ganz im Gegenteil: Sie würden mich »anglotzen«. In einem alten Wienerlied heißt es: »Sei immer zufrieden mit deinem Geschick, beneide nicht immer die andern ums Glück …«
… ich bin damit zufrieden – sehr sogar!
Miniaturen aus vier Jahreszeiten und vier Jahrzehnten
Der ist erst ganz unglücklich, der die kahlen Wände seines Herzens nicht einmal mit Bildern der Erinnerung schmücken kann.
Johann Nepomuk Nestroy
Das ist für Ihre Rente
Jeder Mensch hat sich in seinem Leben Gewohnheiten angeeignet, auf die er nicht gerne verzichten möchte. Auch ich habe meine Fixpunkte, die mir wichtig sind.
Kurz nachdem ich 1976 im Vier Jahreszeiten meine Stellung angetreten hatte, begab ich mich in der Stadt auf Erkundungstour. Besuchte die Kirchen Hamburgs, entdeckte meine bevorzugten Ecken und Winkel. Unvergesslich ist mir ein mittägliches Orgelkonzert in St. Johannis in Harvestehude: Claus Bantzer virtuos an der Orgel. Nach dem eindrucksvollen Erlebnis ging ich über die Straße zu meinem zweiten Fixpunkt: Ein kleines Antiquitätengeschäft. Die Betreiberin war Frau Annemarie Rey. Eine sehr elegante Dame.
Hineinzugehen getraute ich mich nicht. Im Schaufenster wunderschöne Schmuckstücke. Preziosen aus Silber getrieben, edelstes Porzellan alter Manufakturen, Gläser aller Epochen aus feinstem Kristall, mit Facettenschliff und goldenen Mundrändern. Einen Ranftbecher erinnere ich, mit drei Blumenarkadenbildern und Schriftband darüber, könnte aus der Wiener Werkstatt von Anton Kothgasser gewesen sein, frühes 19. Jahrhundert. Fußbecher für Wein aus gesteineltem Glas mit Fruchtdekor. Böhmische Mehrfachüberfanggläser in den schönsten Farben und mit Golddekor. Englische Tafelbestecke aus Sterlingsilber, die Messerklingen mit wunderschönen Ornamentziselierungen dekoriert, die Fisch- oder Schalentiermotive zeigten. Eine Kuriosität war eine sogenannte Nachtflasche; das Trinkglas diente zugleich als Verschluss, indem man es über die gleichfarbige Flasche stülpte. Auch ausgesuchte Kleinmöbel wie Biedermeiernähtische oder Damenkommoden mit hohen schlanken Beinen und feinen Intarsien waren im Laden von Frau Rey zu bewundern. Einfach zauberhafte Dinge. Kaufen konnte ich sie leider nicht. Da war mein Kellnergehalt zu schmal. Meine Devise »Man muss im Leben nicht alles haben« half mir.
Eines Tages erschien ebendiese elegante Dame zum Mittagessen im Jahreszeiten-Grill. Oh wie habe ich mich gefreut, Frau Rey einmal nicht nur durch die Glasscheibe zu sehen! Ihr dunkles, rötlich schimmerndes Haar bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrem hellen Kostüm in weißer oder hellbeiger Farbe, das um die Taille von einem dünnen Gürtel aus Lack- oder Krokodilleder zusammengehalten wurde. Das ganze Ensemble ließ sie noch nobler aussehen, als sie es ohnedies war. Mit ihr war auch ihr Sohn gekommen: ein Hamburger Kaufmann in den Vierzigern, grauer Anzug und hellbraune Hornbrille.
Der Tisch in der schmalen Ecke neben dem hantierenden Koch war ihr Lieblingstisch. Und ihre Lieblingsspeise zartrosa gebratene Kalbsleber mit Kartoffelpüree und darüber etwas braune Butter. Sie wusste immer, was sie wollte. Ein klassischer Fall von »einfach-kompliziert«. Einige Jahre später verstarb sie. Alles hat seine Zeit. Wir haben die unsere.
Ihr Sohn hielt uns weiter die Treue und kam in regelmäßigen Abständen mit seiner ebenso charmanten wie eleganten Frau Marga, auch »einfach« wie die Schwiegermutter, jedoch ohne »kompliziert«. Beide von einer berührenden, aufrichtigen Herzlichkeit. Zwischen dem Ehepaar Rey und mir entwickelte sich im Laufe der Jahre eine von gegenseitiger Achtung getragene Freundschaft, und so durfte ich die beiden auch zu meinem ersten Wiener Liederabend begrüßen. Bei diesem Anlass drückte mir Erich-Wilhelm Rey ein Schächtelchen in die Hand. »Das ist für Ihre Rente«, setzte er erklärend hinzu. Zu Hause öffnete ich ehrfurchtsvoll die schön verpackte Schachtel. Darin befand sich eine golden nicht nur glänzende Münze aus Südafrika mit einer Antilope darauf und dem Datum 1975, dem Gründungsjahr seines Unternehmens Rey-Plastic. Eine sehr edle, honorige Gabe! Hamburger Noblesse.
Der tiefe Sinn der bedeutungsschweren Worte »Das ist für Ihre Rente« hat sich mir erst heute eröffnet. Erich-Wilhelm Rey konnte mit einem wahren
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