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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Deutschland.
    Nur einmal eine Rangelei. Ein Mann mit blutiger Nase. Er ging schnell weg, als ob er sich fürs Verprügeltwerden schämen müsste.
    Unsere Firma an der Leipziger Straße war kein Verkaufsgeschäft, und deshalb stand dort auch kein Posten. Das erschien mir fast ein bisschen enttäuschend.
    Viel zu spät kam ich auf die Idee, eine Taxe aufzuhalten. Es war ein Wagen der Kraftag, und der Fahrer erkannte mich. «Wohin soll’s denn gehen, Herr Gerron?», fragte er.
    «Nach Hause», sagte ich.
     
    Ich öffne die Tür zu unserem Kumbal, und da sitzt eine fremde Frau. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Olga nicht erkannt.
    Sie hat jemanden gefunden, der mehr Begabung zum Haareschneiden hat als ich. Ihr Schädel ist jetzt glattrasiert. Ohne ihr Kopftuch sieht sie aus wie ein Sträfling.
    Meine Olga.
    Sie hat das aufgeschlagene Schulheft vor sich liegen. Bin bei Eppstein. Der Titel zu einem Aufsatz. Eine ungelöste Schulaufgabe.
    «Du bist zurückgekommen», sagt sie. In ihrer Stimme ist Überraschung.
    Man gibt es sich nicht zu. Man will es sich nicht zugeben. Manwürde das Eingeständnis nicht ertragen. Aber es ist doch so: Wir haben alle zu viele abschiedslose Abschiede erlebt. Haben alle zu oft erfahren, dass ein Mensch einfach verschwinden kann. Verhaftet. Deportiert. Dass sein Gedeck noch auf dem Tisch steht, und dabei ist der Totenschein schon ausgefüllt. Herzmuskelschwäche oder Auf der Flucht erschossen . Was die Hakenkreuz-Alemänner eben so hinschreiben. Wir erwarten es nicht mehr anders. Ungewöhnlich ist nur, wenn nichts Schlimmes passiert.
    Kein Wunder, dass Olga staunt.
    «Du bist zurückgekommen», sagt sie noch einmal, und jetzt hat sie das Staunen aus ihrer Stimme verschwinden lassen. Ich soll nicht merken, dass sie Angst um mich gehabt hat.
    Dabei ist Angst doch unser alltäglicher Zustand.
    «Eppstein war sehr freundlich zu mir», sage ich.
    «Was wollte er?»
    «Ich muss den Film machen.»
    «Natürlich», sagt sie.
    «Ich habe keine Wahl, sagt Eppstein. Er hat mir nicht einmal gedroht.»
    «Das muss er nicht», sagt sie.
    «Nein», sage ich, «das muss er nicht.»
    Sie hat sich beim Putzkommando krankgemeldet. Es kann nicht schwer gewesen sein, den Schichtführer zu überzeugen. Ohne Haare sieht man erst, wie dünn sie geworden ist. Meine arme Olga. Sie bekommt viel zu wenig zu essen, und ich bin schuld daran.
    «Ich habe im Leben alles falsch gemacht», sage ich.
    «Nein», sagt sie, «wir haben nur das falsche Leben erwischt.»
    Sie steht auf und legt ihre Arme um mich. Wir sind ein lächerliches Paar, eine Frau ohne Haare und ein viel größerer Mann, der seinen Bauch verloren hat. Die falsche Besetzung für eine romantische Szene. Aber es tut gut, sie nahe bei mir zu spüren. Es tut so gut.
    Ihr Kopf liegt an meiner Brust. Ich küsse ihren kahlen Schädel. «Mein kleiner Igel», sage ich.
    Sie drückt sich an mich. Beginnt zu summen. Ganz leise. Eigentlich muss man das Lied grölen, nach der zweiten Flasche Wein, odernach der dritten. Mehrstimmig. Zusammen mit Otto Burschatz. Wenn die Igel in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehn. Heute klingt es wie eine Hymne.
    Ich will Olga nie loslassen müssen.
    Sie summt, und ich stimme ein. An der richtigen Stelle beginnen wir zu singen. Laut. Als ob wir etwas zu feiern hätten. Anna-Luise , singen wir. Anna-Luise.
    Und wir lachen. Später werden wir uns einmal daran erinnern, dass wir gelacht haben.
    «Du hast nichts falsch gemacht», sagt Olga. «Wir sind nur nicht weit genug davongelaufen.»
     
    Otto brachte uns die Fahrkarten nach Hause. «Es wird Verhaftungen geben, hört man», sagte er. «Du stehst wohl nicht ganz oben auf der Liste, aber man muss ja nicht darauf warten, bis man nachgerückt ist.» Otto kennt immer einen, der einen kennt, der etwas weiß.
    Er legte das Kuvert mit den Fahrkarten auf den Esstisch, eine nachläßige Bewegung, als ob es um etwas Alltägliches ginge, eine kleine Gefälligkeit, nicht weiter wichtig.
    Ich sehe den Umschlag noch da liegen. Auf dem weißen Tischtuch mit den gestickten blauen Blümchen. «Du musst etwas essen», hatte Olga gesagt. Den Tisch gedeckt wie für Besuch. Aber mir, dem verfressenen Kurt Gerron, hatte es den Appetit verschlagen. Das Geschirr stand noch da, die Tassen, das Brotbrett, der unberührte Teller mit dem Aufschnitt. Dazwischen das Kuvert. Mit dem Firmenzeichen der Ufa unten links in der Ecke. Die drei Buchstaben in ihr Quadrat eingesperrt. Ein Dienstkuvert.
    Mit

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