Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Reichsbahn. Es stand an jedem Wagen ordentlich angeschrieben. Frisch gemalte Buchstaben. Wahrscheinlich hat man die Waggons erst kürzlich germanisiert. So wie den Rest von Europa auch.
Die Landkarte haben sie auch neu angeschrieben.
Im Waggon riecht es nach altem Stroh und frischem Urin. Nach Scheiße und Bedrohung. Wie im Zoologischen Garten bei den Raubtieren. Oder im Zirkus.
Im Kolosseum muss es so gerochen haben. Wo sich die Verurteilten vor Angst vollgepisst haben, wenn sie in die Arena getrieben wurden. Wo immer mal wieder einer versuchte, sich aufzuhängen, bevor sie die wilden Tiere auf ihn hetzen konnten. Aber sie haben ihn nicht gelassen, weil sonst die Zahlen auf der Liste nicht gestimmt hätten. Die alten Römer waren ordentliche Leute.
Buchhalter.
In den Zellen auf der Unterbühne wird es nicht nur Gefangene gegeben haben, sondern auch einen Statistenführer. Der hat sich vorne hingestellt, in die Hände geklatscht und eine Ansage gemacht. «Also, noch mal zum Mitschreiben! Sobald das Gitter hochgezogen wird, marschiert ihr ein. In ordentlichen Reihen. Dann verneigt ihr euch vor der Ehrenloge und ruft im Chor: ‹Morituri te salutant.› Denkt daran, Leute: Das ist euer großer Moment.»
Das ist unser großer Moment.
Die Bühnentechnik hat Fortschritte gemacht in den letzten zweitausend Jahren. Die Besetzung der Massenszenen ist größer geworden. Und es sind nicht mehr die Christen, die von den Löwen gefressen werden.
Aber sonst?
Genau so muss es damals gerochen haben. Genau so.
Wenn es im alten Rom schon Kino gegeben hätte, dann hätte der Kaiser bestimmt einen Film über seine Zirkusspiele drehen lassen.Als Andenken. «Aber lassen Sie das Blut weg», hätte er zum Regisseur gesagt. «Die Leute wollen so was nicht sehen.»
Nicht im Kino.
In Prag schneidet jetzt wahrscheinlich der Pečený meinen Film. Sie werden ihn vorführen, und mein Name wird nirgends stehen. Es wird auch niemand danach fragen. Es hat mich nie gegeben.
Vor der kleinen Fensteröffnung heben zwei Männer einen dritten hoch. Ich sehe seinen Arm als Schattenriss. Er schiebt einen Zettel durch das Gitter. Ein Hilferuf. Oder ein Bericht über das, was mit uns geschieht.
Was sie wohl geschrieben haben? Ihre Namen werden dort stehen. Wie auf jedem ordentlichen Grabstein. Dann und dann geboren, dann und dann gestorben. Auf einen Tag hin oder her wird es nicht ankommen.
Und irgendwas Dramatisches. «Rettet uns!» Oder: «Vergesst uns nicht!» Weder das eine noch das andere wird den geringsten Effekt haben. Es interessiert sich niemand für uns.
Vielleicht wenn sie meinen Namen hingeschrieben hätten. Den die Leute von den Kinoplakaten kennen. Auf der Straße hat man mich angesprochen und um Autogramme gebeten. Ich bin jemand.
Ich war jemand.
Vielleicht wenn die Leute wüssten, dass ich in diesem Zug sitze. Ihr Liebling. Der sympathische Dicke. Dass ich hier auf dem dreckigen Boden hocke, ein Bein angewinkelt, weil kein Platz da ist, um beide auszustrecken, den Rücken an eine Wassertonne gelehnt. Vielleicht würden sie dann reagieren.
Aber die Filme, in denen ich mitgespielt habe, sind längst verboten, und Theateraufführungen haben die Leute schon vergessen, wenn sie an der Garderobe um ihre Pelze anstehen.
Ich bin Vergangenheit. Selbst wenn sie meine gesamte Geschichte hinschrieben – es würde sie niemand glauben.
Aber so war es.
Vieles in diesem Roman ist erfunden. Dieses leider nicht: Am 30. Oktober 1944 wurden Kurt Gerron und seine Frau Olga in Auschwitz ermordet. Drei Tage später wurden die Vergasungen endgültig eingestellt.
Der Film über Theresienstadt wurde vom Kameramann Ivan Fric geschnitten und vertont.
Über den Autor
Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor, seit 1980 als freier Autor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und einige Drehbücher, darunter für den Film Ein ganz gewöhnlicher Jude, (Hauptdarsteller Ben Becker, ARD 2005). Für den Roman Johannistag wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman Melnitz wurde mittlerweile in zehn Sprachen übersetzt, darunter auch ins Hebräische. 2007 zeichnete man ihn in China als Besten deutschen Roman 2006 aus, in Frankreich erhielt er 2008 den Preis des besten ausländischen Romans.
Daten, Fakten, Jahreszahlen
Am 14. April 1946 in Zürich geboren
Studium der
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