Gerron - Lewinsky, C: Gerron
viel wirksamer.
Ein wunderschöner Frühlingstag. Die Passanten hatten alle diese lächelnden Der Winter ist vorbei -Gesichter. In Westerbork lächelten sie genau so, wenn sie vor den Baracken in den Schubkarren lagen, die ihnen die Liegestühle ersetzten. Eine Frau schob einen Kinderwagen, und wildfremde Leute nickten ihr zu. «Es ist die richtige Zeit dafür», signalisierten sie. «Die richtige Zeit für einen neuen Anfang.»
Dabei war doch gerade die Welt untergegangen.
An der Ecke zur Oranienburger Straße sah ich es zum ersten Mal. Ein ganz gewöhnlicher kleiner Zigarrenladen. Es muss in Berlin Hunderte davon geben. Jeder eine knappe Existenz für eine alte Frau oder einen Kriegsveteranen. Vor dem Eingang ein Halbkreis von Menschen. Wie man sich versammelt, wenn ein Unfall passiert ist. Oder wenn es etwas gratis gibt.
Vor dem Ladeneingang, breitbeinig, mit verschränkten Armen und hochgerecktem Kinn, genau so mussolinimäßig, wie der von Neusser auf seinem Goldstühlchen posiert hatte, ein SA-Mann. Als ob er die Reklameschilder für Manoli- und Greiling-Zigaretten bewachen müsste. Neben ihm ein zweiter. Mit einem Plakat. Deutsche, kauft nicht bei Juden. Alle beide machten sie wichtige Gesichter, wie Opernchoristen, wenn es dramatisch wird. Und waren doch nur – man musste nicht vom Fach sein, um das zu erkennen – brave Kleinbürger, die endlich mal großes Theater spielen durften.
Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen. Ein Lieblingssatz von Oberstudiendirektor Dr. Kramm. In seiner Abituransprache zum Kriegsbeginn hat er ihn zitiert und dabei seinen Bart gestrichen. Mit derselben feierlichen Klassiker-Miene, die jetzt die SA-Leute aufgesetzt hatten.
Ich würde mich gern erinnern, dass ich empört war. Erschreckt zumindest. Aber so war es nicht. Ich ging einfach vorbei. Habe, sofühlt es sich beim Nacherleben an, nicht einmal meinen Schritt verlangsamt. Es schien mir ganz selbstverständlich, was ich da sah. Es war ein Tag, an dem solche Dinge selbstverständlich waren.
Kauft nicht bei Juden.
Alle Juden verlassen das Atelier.
Ein paar Häuserblocks weiter kam ich an der großen Synagoge vorbei, wo gerade ein Gottesdienst zu Ende gegangen war. Die Judskis in ihrer festtäglichen Verkleidung wuselten in aufgeregten Trauben durcheinander und waren empört. Aber, so meine ich mich zu erinnern, sie empörten sich nicht lautstark. Sie hatten schon angefangen, leise zu werden.
Ich ging an ihnen vorbei. Ging einfach vorbei.
Mehr Geschäfte und mehr SA-Leute. Manchmal hatten sie die Schaufenster beschmiert. Noch nicht eingeschlagen, das kam später. Erst mal nur beschmiert. Mit weißer Flüssigkreide, wie für lauter Sonderangebote. Juda verrecke – heute besonders günstig.
Er irrt durch die Straßen. Der Satz taucht immer mal wieder im Entwurf zu einem Drehbuch auf, und ich habe die Szene jedes Mal gestrichen. Weil sie sich nicht sinnvoll darstellen lässt. Weil sie in der Wirklichkeit nicht vorkommt.
Dachte ich.
Irgendwann einmal – ich weiß nicht mehr, wie ich dort hingekommen bin – ging ich den Kupfergraben entlang, wo es keine Läden gab und keine Boykottposten. Wenn ich mich hier ertränke, dachte ich, muss ich es Olga nicht erzählen. Aber ertrinken ist ein schwieriges Unterfangen. Der Kupfergraben ein allzu lächerliches Gewässer, um sich darin umzubringen.
Er irrt durch die Straßen. Er sieht alles wie durch einen Schleier. «Klischees sind wirkungsvoll», hat der Joe May einmal gesagt, «weil sie immer einen wahren Kern haben.»
Dann – alle Wege führen nach Jerusalem – fand ich mich in der Gegend, wo ich mich als kleiner Junge verlaufen hatte. Nein, fand mich nicht. Verlor mich.
Am Werderschen Markt gibt es viele jüdische Geschäfte. Gab es. Vor Gersons Bazar des Modes stand ein ganzer Trupp SA-Leute.Keine so prächtigen Uniformen wie die des stadtbekannten Türstehers und Kunden-Hereinbitters. Braun wie Scheiße.
Einer, ich kann heute noch spüren, wie ich erschrak, sah aus wie unser Portier Heitzendorff. Es war dann nicht der Effeff. Obwohl der bestimmt auch irgendwo vor einem Geschäft sein Plakat in die Höhe hielt.
Kauft nicht bei Juden.
Bringt ihnen keine Kohlen auf die Etage.
«Sie sind aber nicht Arier, Herr Heitzendorff», hat Papa gesagt. «Sie sind Portier.»
Die Leute ganz ruhig. Als ob sie alle, die Uniformierten und die Zuschauer, bloß ihre Pflicht täten. Wie man das eben macht in
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