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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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sie seinen besten Freund küsst und kann nichts dagegen unternehmen, denn er ist ja tot, und alle andern wissen es. Nur er nicht. Er ist gestorben und hat es nicht gemerkt.
    Der Film wurde nie gedreht, weil uns kein richtiger Schluss dazu einfiel. Ein Happy End konnte er nicht haben. Einer, den man begraben hat, wird nicht wieder lebendig. Geschichten mit traurigem Ausgang will niemand sehen.
    Genau so war es jetzt im Ballhaus Bühler. Genau so. Für die Ufa war ich gestorben. Ich musste mich nur noch daran gewöhnen.
    Die Schauspieler und die Techniker standen unbeweglich da, eingefroren, wie für eine Tricksequenz, wenn der Aufnahmeleiter gerufen hat: «Niemand rührt sich!» Dann räumt der Requisiteur etwas weg, und wenn die Kamera wieder weiterläuft, ist es verschwunden.
    So wie ich.
    Ein ganz einfacher Trick.
    Nur Magda Schneider rührte sich. Die Bewegung fiel mir auf,weil sie die einzige war. Mit dem Taschentuch tupfte sie sich die Augen ab, wollte zeigen, wie sensibel sie doch war und wie sehr die Situation sie erschütterte. Eine Schauspielergeste.
    Die anderen …
    Manchmal, wenn man in einer Vorstellung sitzt, und ein Kollege ist so richtig peinlich schlecht, oder eine Sängerin trifft die Töne nicht, so dass man die Dissonanzen in den Zähnen spürt, dann wünscht man sich weit weg, möchte woanders sein, egal wo, bloß nicht in dieser Vorstellung. Weil man nicht mehr auf die Bühne schauen will und doch den Kopf nicht unhöflich abwenden darf, starrt man dann in die Luft, ins Leere, oder studiert andächtig die Gipsputten am Proszenium.
    Diesmal war ich der Misston. Der Herr Reichsminister Dr. Goebbels hatte mich dazu erklärt.
    Hundert Leute, mehr als hundert Leute schauten an mir vorbei, ins Leere. Betrachteten sich selber in den Spiegeln an den Wänden. In meiner Erinnerung bleibt es lang bei diesem Standbild. In Wirklichkeit wird die Szene nur Sekunden gedauert haben. Dann streckte der von Neusser einen Arm aus, wie ein Schupo auf der Kreuzung. Winkte mit der andern Hand. «Gehen Sie weiter, Sie halten den Betrieb auf!»
    Ich ging. Ließ das Drehbuch mit seinen lustigen Verwicklungen einfach auf den Boden fallen, Kind, ich freu mich auf dein Kommen , und ging. Nahm mein Jackett, das über der Lehne des Regiestuhls hing, schlüpfte in den einen Ärmel und in den andern und ging. Richtete mich gerade auf, straffte den Rücken, wie mir das Friedemann Knobeloch beigebracht hatte, und ging. Inszenierte mich auch noch in diesem Moment. Kontrollierte meine Haltung in den Spiegelwänden. Versuchte eine Würde zu bewahren, die ich schon nicht mehr besaß.
    Und ging.
    Man merkt es nicht sofort, wenn man tot ist.
    Heute, wo Illusionen keinen Sinn mehr machen, kann ich es mir zugeben: Mein Abgang war kein Original. Ich habe dabei jemanden kopiert. Albert Bassermann in Don Carlos .
    Nach dem letzten Satz des Stücks – Ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihre! – ist er damals als Philipp II. unendlich langsam nach hinten gegangen. Von ganz vorn an der Rampe bis in den Bühnenhintergrund. Drehte sich von den Zuschauern weg, machte in aller Ruhe einen Schritt und noch einen, und sie waren alle in seinem Bann, obwohl er ihnen doch den Rücken zukehrte. Noch einen und noch einen. Niemand hätte gewagt, vorzeitig zu applaudieren. Selbst als schließlich der Vorhang zuging, ganz langsam, blieb es noch lange still. Der stärkste Abgang, den ich je auf einer Bühne gesehen habe.
    Aber im Ballhaus Bühler führte nicht Max Reinhardt Regie. Die Einsamkeit, die Bassermann mit diesem Effekt so überzeugend gespielt hatte, stellte sich nicht ein. Ich war ja nicht der einzige, den von Neussers Verdikt betraf.
    Alle Juden verlassen das Atelier.
    Alle.
    Wir mussten uns zwischen den Tischen im Spiegelsaal durchschlängeln und kamen uns gegenseitig in den Weg. Ein paar von der Statisterie und ein Beleuchter, der Lilienfeld hieß. Lilienfeld oder Liliental.
    Und ich.
    Aber ich war der Regisseur. Ich war der wichtigste Mann im Atelier. Jemand hätte mich aufhalten müssen.
    Irgendjemand.
    Wenn Otto Burschatz dagewesen wäre, ich bin sicher, er hätte es getan. Aber er war in der Stadt unterwegs. Als er dann am Abend bei uns in der Wohnung auftauchte, sagte er: «Man hat mir erzählt, du hast geweint.»
    Ich habe nicht geweint.
    Doch.
     
    Die Tür vom Ballhaus Bühler schloss sich hinter mir. Ich stand auf der Auguststraße. Die Sonne schien. Und ich dachte: Das muss man anders inszenieren. Bei traurigen Szenen ist Regen

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