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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Fahrkarten.
    Einen ganzen Nachmittag lang hatte ich gegrübelt, aber nie an Flucht gedacht. Bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen. Nicht eine Sekunde lang. Bin aus der Taxe ausgestiegen vor unserm Haus, und als der Fahrer die Hand an die Mütze legte und sagte: «Ich freu mich auf Ihren nächsten Film, Herr Gerron», da habe ich genickt und gelächelt und gesagt: «Jaja, der wird bestimmt sehr schön.»Habe die Treppe genommen, das weiß ich noch, nicht den Aufzug, habe mich, noch in dieser Situation, daran erinnert, was Dr. Drese bei der letzten Konsultation gesagt hatte: «Treppensteigen ist gut für Ihre Linie.» Der Kopf ist ein seltsamer Apparat.
    Olga hat mich nicht erwartet, natürlich nicht. Wenn ich mit einem neuen Projekt begann, hat sie immer zu mir gesagt: «Wir treffen uns dann wieder, wenn dein Film abgedreht ist.»
    Sie war im Morgenmantel, hatte ein Kopftuch umgebunden und das Gesicht mit einer weißen Paste eingerieben. Sah aus wie ein Clown. Dabei hat sie nie gewollt, dass ich sie so sehe. «Du brauchst nicht zu wissen, mit welchen Tricks ich mich für dich schön mache», hat sie immer gesagt. «Ich mag es nicht, wenn man mir hinter die Kulissen schaut.»
    Hat sie nie gewollt. Hat sie immer gesagt. Wird sie nie mehr sagen.
    Ich sah sie da stehen, in der Tür des Badezimmers, und musste lachen. Meine Welt, unsere Welt, war gerade kaputtgegangen, und ich konnte mit Lachen nicht aufhören. Bis ein Weinen daraus wurde.
    «Bist du krank?», hat mich Olga gefragt.
    Ja, ich war krank. Ich bin bis heute nicht gesund geworden. Ich habe die Judski-Krankheit, für die man in Quarantäne gesteckt wird. In einen Viehwaggon gepackt. Notgeschlachtet. Obwohl die Krankheit nicht ansteckend ist. Man hat sie, oder man hat sie nicht. Aber dann ist sie unheilbar.
    Nicht einmal das stimmt. Camilla Spira ist von ihrem Judskitum geheilt worden. Ein Wunder, wie man es in Lourdes nie erlebt hat. Was ist schon eine Marienerscheinung gegen Gemmekers magischen Handkuss?
    Ich habe versucht zu erzählen. Es kann für Olga keinen Sinn gemacht haben. Es machte ja auch keinen Sinn. «Sie haben mich rausgeschmissen», habe ich gesagt. «Vor den Läden steht SA», habe ich gesagt. «Alle Juden verlassen das Atelier», habe ich gesagt. Und die ganze Zeit geheult.
    Olga, die praktische, hat sich zuerst einmal das Gesicht abgewischtund dann Kaffee gekocht. Mit einem tüchtigen Schuss Cognac. Ich zitterte jetzt, als ob ich nackt in der Kälte säße. Konnte kaum die Tasse festhalten.
    Während ich trank, machte sie ein paar Anrufe, und als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wusste sie schon alles.
    Sie blieb ganz ruhig.
    Nicht wirklich. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie kann das. Hat es in ihrer Zeit als Röntgenassistentin geübt. Wenn die Platte eine Krebsgeschwulst zeigt, darf man das einem nicht am Gesicht ansehen.
    Sie hat auch nicht diese tröstlichen Dinge gesagt, die eine Situation nur schlimmer machen. Dafür ist Olga zu klug. «Die können den Film ohne dich ja gar nicht zu Ende drehen», hätte sie sagen können. Aber sie wusste, genau wie ich: Bevor sie mich aus dem Atelier schmissen, hatten sie sich bei der Ufa schon eine Lösung überlegt. Weil jeder Film eine Investition ist, da will man nichts riskieren. Dass sie den von Neusser weitermachen ließen, darauf wäre ich allerdings nie gekommen. Dieser Verwaltungsarsch, der von Regie keine Ahnung hat. Als ich den Film später in Wien sah, stand sein Name neben meinem. Das haben sie nicht gut vorausgeplant. Haben später das Geld für eine neue Kopie ausgeben müssen. Wo der Judski Gerron gar nicht mehr vorkam.
    «Lang werden sich die Nazis nicht an der Macht halten.» Das sagte Olga auch nicht. Obwohl wir das alle glaubten, damals. Sie sagte: «Du solltest dich um deine Eltern kümmern. Es wird schwer sein für sie.» Aber ich hatte nicht den Mumm, an der Klopstockstraße anzurufen. Noch nicht.
    «Du musst etwas essen», sagte Olga. Deckte den Tisch. Vor dem wir dann saßen, ohne etwas anzurühren.
    Bis Otto Burschatz an der Tür klingelte.

Es war das erste Mal, dass ich so völlig die Haltung verloren habe. Rotz und Wasser. Selbst im Krieg hatte ich es immer irgendwie geschafft, mich zu beherrschen. Aber Krieg ist etwas anderes. Die Schrapnellsplitter, die da geflogen kommen, haben nichts gegen dich persönlich.
    Die Nazis schon.
    Beim ersten Mal, weil ich mit dem Schlag nicht rechnete, haben sie mich kaputtgekriegt. Später ist man härter geworden.

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