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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Nicht stärker, aber härter. Das ist der kleine Trost, der einem bleibt. Der kleine Stolz.
    Selbst damals, als Mama und Papa aus Amsterdam abtransportiert wurden und ich nichts mehr für sie tun konnte, Judenrat hin, Judenrat her, habe ich mich mit trockenen Augen von ihnen verabschiedet. Nicht nur, um ihnen durch meine scheinbare Ruhe Hoffnung zu machen. Das natürlich auch. Selbstverständlich habe ich ihnen vorgelogen, was man sich eben so vorlügt. «Es wird schon nicht so schlimm werden, es ist nur vorübergehend, wir werden uns wiedersehen.» Aber ich konnte den Abschied von ihnen auch tatsächlich aushalten. Er hat mich nicht völlig durchgeschüttelt. Ich wusste damals noch nicht, dass man sie nach Sobibor weiterschicken würde, aber selbst, wenn ich es gewusst hätte …
    Man hat eine Menge auszuhalten gelernt. Fast immer habe ich es geschafft, mir mein eigenes Elend anzusehen wie ein Theaterstück. Wie einen Film. Etwas, das nicht wirklich mich betrifft.
    Als ich in Westerbork auf der Liste stand, und alle andern, die zum Kabarett gehörten, noch bleiben durften, auch da habe ich nicht schlappgemacht. Nicht geheult und nicht gezittert. Sie haben meinen Namen aufgerufen, unsere Namen, nur die beiden und alle andern nicht, und ich habe zu Olga gesagt: «Mich haben sie mit einer Solorolle besetzt.»
    Man nennt das wohl Galgenhumor. Sie haben uns genügend Zeit gelassen, uns an den Galgen zu gewöhnen. An die Schlinge um den Hals.
    Aber damals am 1. April … Ausgerechnet am 1. April! Der Himmelsdramaturg, der sich diese Pointe ausgedacht hat, liebt geschmackloseScherze. Damals war ich die Prügel noch nicht gewohnt. Deshalb habe ich die Beherrschung verloren. Obwohl doch noch gar nichts besonders Schlimmes passiert war. Überhaupt nichts. Nur meine Arbeit hatte ich verloren. Nur meine Karriere war kaputt. Sonst nichts.
    Ich hatte noch immer einen Anzug an, der mir passte. Ich hatte noch immer einen Körper, der diesen Anzug ausfüllte. Ich saß noch immer in meiner eigenen Wohnung, und die war sauber und warm. Essen stand auf dem Tisch. Zwei Türen weiter wartete ein Bett. Ohne Läuse. Ich war immer noch im Paradies.
    Eine Taxe hatte mich nach Hause gebracht, und der Fahrer war höflich gewesen. «Wie schön, dass ich Sie auch einmal fahren darf, Herr Gerron», hatte er gesagt. Ich hatte Geld in der Tasche gehabt, um ihn zu bezahlen. Richtiges Geld, mit dem man wirklich etwas kaufen konnte. In einer Stadt, in der es alles zu kaufen gab. Es war noch gar nichts passiert.
    Es hatte mich noch nie jemand in den Bauch getreten. Es hatte mich noch niemand ins Gesicht geschlagen, einfach so, ganz nebenher, wie man einem Fremden zunickt, wenn man ihm auf dem Spazierweg begegnet. Ich hatte noch nie jemanden verhungern sehn.
    Ich hatte also gar keinen Grund, so zu jammern. Mir ging es blendend. Relativ blendend.
    Nur: Ich wusste es nicht. Das Wissen hätte mich auch nicht getröstet. Damals im Lazarett habe ich mich auch nicht ans Bett eines Schwerverwundeten gestellt und gesagt: «Spar dir deine Schreie für später auf, Kamerad. Ich kann dir garantieren, deine Schmerzen werden noch viel schlimmer werden.» Er hätte es nicht geglaubt. Man muss es erlebt haben.
    Damals, in Berlin, hatte ich noch nichts erlebt. War noch jungfräulich. Es ging mir wie dem kleinen Korbinian: Ich hatte zum ersten Mal Prügel bezogen und wusste nicht damit umzugehen. Zum Opfer wird man nicht geboren, man wird dazu gemacht. Man muss die Rolle üben. Gründlich probieren. Mit jedem Mal wird man ein bisschen besser darin.
    Man gewöhnt sich an alles. An fast alles. Legt sich eine dicke Haut zu, weil man so die Prügel weniger spürt.
    Man spürt sie natürlich doch. Aber irgendwann sind sie nichts Außergewöhnliches mehr.
    In Berlin war ich noch Amateur. Ein einziger Schlag, und schon konnte ich nicht mehr denken. Sonst wäre ich selber auf den Gedanken gekommen, aus Deutschland wegzufahren.
    Aber ich hatte ja Otto Burschatz.
     
    «Ich habe ein Abteil für euch reserviert», sagte er. «Der Zug fährt Montag früh, zehn Uhr einundzwanzig. Da hast du vorher noch genügend Zeit, um zur Bank zu gehen. Heb so viel ab, wie sie dir geben. Man weiß nicht, wie das mit Überweisungen sein wird.»
    «Meinst du wirklich, dass ich wegfahren muss?», fragte ich.
    Und Otto sagte: «Es ist nun mal so.»
    Ich habe nicht diskutiert. Habe die Entscheidung einfach hingenommen. War dankbar, dass sie jemand für mich getroffen hatte. An jenem Tag wäre ich

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