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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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ein halbes Jahr alt sein.
    Dieses Kind aus dem Zug: Hätte es geboren werden wollen, wenn es gewusst hätte, dass seine wohlbehütete Jugend genau sechs Monate dauern würde? Plus drei Tage für die Zugfahrt?
    Natürlich nicht.
    Es gibt eine Legende, die mein Großvater Emil Riese mir erzählt hat, jeden Satz mit einer Wolke aus Zigarrenqualm beweihräuchernd. Ich liebte die phantastischen Geschichten meines Großvaters, so wie mein der Rationalität verschriebener Vater sie hasste.
    Sie ging so: Wenn ein Mensch erschaffen wird – er erklärte mir nicht, wie das vor sich ging, und ich war noch nicht in dem Alter, wo man danach fragt –, wenn ein Mensch beginnt, Mensch zu sein, dann weiß er schon alles, was es zu wissen gibt, das, was in den klugen Büchern steht, und auch die Dinge, die noch keiner entdeckt hat. Er kennt die Ereignisse der Vergangenheit, und er weiß, was noch alles geschehen wird, draußen in der Welt und drinnen im eigenen Leben. Aber kurz bevor er geboren wird – auch wie das im Einzelnen vor sich ging, blieb mir damals noch ein Rätsel –, kommt ein Engel und tippt ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn. Pling.Dann vergisst der neue Mensch alles, was er eigentlich schon gewusst hat. Wenn er dann zur Welt kommt, sagte mein Großvater, erinnert er sich gerade noch daran, wie man oben etwas in sich hineinsaugt und unten etwas aus sich herauspresst. Ich lachte, und er füllte die Pause, indem er an seiner Zigarre paffte. Eine effektvolle Erzähltechnik, die einen die Pointen besser plazieren lässt. Ich habe sie später auf der Bühne selber angewendet.
    Nur die Juden, fuhr Großpapa fort, sind schlau genug und drehen den Kopf weg, wenn der Engel kommt. Sein Finger trifft dann nicht mehr ihre Stirn, sondern gerade noch die Nasenspitze. Sie vergessen deshalb nicht alles, was sie schon gewusst haben, sondern nur das meiste. Deshalb, sagte mein Großvater, sind wir Juden klüger als andere Leute, und deshalb, sagte er, haben wir krumme Nasen. Eine Erklärung, auf die noch nicht einmal der Stürmer gekommen ist.
    Papa war damals nicht dabei. Er hätte die Geschichte vor ihrem Ende unterbrochen und gesagt: «Erzähl dem Jungen nicht solche Sachen! Und überhaupt, immer dieser Zigarrenrauch, das kann für das Kind nicht gesund sein.»
    Die altmodische Wohnung an der Händelstraße war immer voller Qualm. «Ich darf das», meinte Großpapa. «Wenn man Witwer ist, darf man alles.»
    Wenn mich mein eigener Engel mit seinem Schnipser verfehlt hätte, und ich hätte mein Leben von Anfang an gekannt, mit all seinen miesen Episoden und seinem noch mieseren Finale, wie man ein Theaterstück kennt, nachdem man das Textbuch gelesen hat – ich hätte meine Rolle trotzdem spielen wollen. Weil der Text noch nicht die Inszenierung ist. Mein Wissen hätte ich als ersten Entwurf betrachtet, als etwas, das man während der Proben immer noch diskutieren und abändern kann. Und was die wirklich unangenehmen Passagen anbelangt: Strich bis zur nächsten Szene.
    Nein, ich hätte mich nicht im Mutterleib festgekrallt. Mich hätte man nicht mit Gewalt in die Welt zerren müssen. Ich hätte es probieren wollen. Angetrieben von einem unvernünftigen Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft.
    In den Jahren, als ich berühmt war, habe ich immer mal wieder einen Fragebogen beantworten müssen, für eine Zeitung oder eine Illustrierte. In jedem zweiten kam die Frage vor: Was ist Ihr größter Fehler? Ich habe dann hingeschrieben, was man eben so hinschreibt: Ungeduld oder Ich kann Süßigkeiten nicht widerstehen. Aber eigentlich hätte da stehen müssen: Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.
     
    Olga ist mir um den Hals gefallen. Wie Mama damals, als ich von der Front auf Urlaub kam. Nicht jeder, der zu Rahm bestellt wird, kommt auch wieder zurück.
    «Gott sei Dank», hat sie gesagt. Olga ist kein Mensch, der betet, das sind wir beide nicht, aber es war mehr als eine Floskel. «Ich habe dir ein Stück Brot aufgehoben», hat sie gesagt. Ich habe versucht, es ganz langsam zu essen, und habe es dann doch hinuntergeschlungen.
    Olga hat mich nichts gefragt. Hat sich auf meinen Schoß gesetzt und ihren Kopf an meine Brust gelegt. Ihre Haare riechen immer wie frisch gewaschen. Ich weiß nicht, wie sie das macht, hier im Ghetto.
    Ich habe die richtigen Worte gesucht und sie nicht gefunden. Es gibt keine richtigen Worte. Ich habe ihr erzählt, was man von mir verlangt, und auch sie ist erschrocken. Nicht

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